200 Konzerte, 40 Orte, knapp 20.000 Besucher: Das internationale Flair des Reeperbahn-Festivals ist im sechsten Jahr so ausgeprägt wie nie.

Hamburg. Auch Käse kann Rock'n'Roll sein. Streng zieht der Raclette-Duft über den Spielbudenplatz. Ein Koch kratzt das flüssige Gelb vom heißen Hobel. Die Menschen, die ihm bei diesem Open-Air-Büfett die Teller hinhalten, tragen Karohemden, Sonnenbrillen und die Falten der letzten Nacht im Gesicht. Und doch knüpfen sie am frühen Nachmittag bereits an das an, weshalb sie an diesem Wochenende auf den Kiez gekommen sind: Musik.

Während des Reeperbahn-Festivals hat die Schweizer Pop-Branche zum Empfang in den kleinen Laden On Air geladen. Und nicht nur vor der Tür werden landestypische Spezialitäten serviert. Im Innern spielt Anna Aaron, Künstlerin aus der Alpenregion, ihren Pop der einfühlsamen Sorte. Plattenfirmenvertreter, Musikmanager, Klubbetreiber, Booker und ganz normale Fans lauschen, reden und treiben hinein in einen weiteren von drei Festivaltagen in und vor den Klubs von St. Pauli. Knapp 20 000 Besucher sind es insgesamt.

Die Intensität, mit der Länder wie Kanada, Israel und Italien bereits tagsüber ihre hoffnungsvollsten Acts präsentieren, ist neu. Das internationale Flair des Festivals ist in seinem sechsten Jahr so ausgeprägt wie nie. 200 Konzerte, 40 Orte, ein Melting Pot. Hier schmilzt, um beim Käse zu bleiben, zusammen, was zusammengehört. Und zwar mit dem eigenen, schönen, strengen Geruch, der Rock'n'Roll anhaftet, anhaften muss: Bier, Schweiß, Euphorie. Die kollektive Sprache: Englisch, Hände, Füße und vor allem: Sound.

Ob nun die Belgier von Triggerfinger im Tarantino-Stil akustisch das Silber zerlegen oder die isländische Nerdtruppe Apparat Organ Quartett im Moondoo vier Keyboards zu einem irren Rave kurzschließt. Immer wieder halten die Herren Zeigefinger und Daumen zum Dreieck hoch. Bis das Publikum es ihnen gleichtut. Ein universeller Code, den niemand versteht. Großartig.

Die Philosophie des Schmelztiegels kommt in geballter Form auch in der Londoner Formation The King Blues zum Tragen. Das Sextett ist ein bunter Haufen verschiedener Nationalitäten und spielt mitreißende Protest-Musik. Ihren Mix von Reggae bis Hardcore schleudert das Sextett zusammen mit Slogans wie "The streets are ours" einem schwitzenden Molotow entgegen.

"Die Dichte der Klubs hier, das ist selten", sagt Austin Powell, ein schlaksiger Kerl, und nimmt auf dem kurzen Fußmarsch vom Gruenspan zum Docks einen Schluck aus seiner Holstendose. Der Journalist schreibt für den "Austin Chronicle" und beobachtet in seiner texanischen Heimat das SXSW-Festival, das Vorbild des Reeperbahn-Festivals. Die Klubsause ist rund 20-mal so groß wie die Hamburger Variante und ein Muss für Popbranche und Fans in den USA. "Hamburg kann das Austin für Europa werden. Das Reeperbahn-Festival hat ein riesiges Potenzial. Ich hoffe, die Stadt erkennt das", sagt Powell, sein breiter Akzent ist unüberhörbar.

Mehr englische als französische Stimmen gibt es auch bei "Meet The French" in der Campus-Lounge zu hören. Ein paar Freigetränke, einige Gainsbourg-Klänge, der Rest schüttelt sich zurecht. Allerdings rätselt der Besucher: Wer ist denn hier Franzose? Louis und Ian von der israelischen Rock-Band Water Knot machen es richtig. Sie nippen am italienischen (!) Rosé-Sekt und stellen sich einfach jedem vor. Ob Schweizer, Kanadier oder eben Israeli - die Begegnung zählt. Und die Franzosen? Die Musiker von Yelle sind beim Soundcheck, die von The Landskies stecken mitten in Interviews.

Ob nun Diskussionen im Rahmen des Campus-Programms, Film-Flimmerei an Häuserwänden, Spontanpartys zu Guerilla-Gigs auf dem Gehsteig, Street Art am Millerntor oder gemeinsame Wegsuche in Nebenstraßen. Grenzüberschreitende Begegnungen sind allerorten möglich. Ein amerikanischer Fan schlägt sich mithilfe der Festival-App und wie bestellt erschallendem Glockenschlag zur St.-Pauli-Kirche durch, wo unter anderem Kultursenatorin Barbara Kisseler dem Folk der Gruppe I Am Oak lauscht. Und auch die Klubs abseits der Reeperbahn sind teils zum Bersten gefüllt. Im Uebel & Gefährlich reizt das experimentelle Elektro-Rock-Doppel aus Warren Suicide und Apparat Band zur Neuentdeckung.

In den vergangenen Jahren hat das Festival immer wieder Künstler zum ersten Mal hierzulande präsentiert, die dann später groß rausgekommen sind wie Lykke Li oder Katzenjammer. In diesem Jahr gab Ed Sheeran, derzeit Platz eins der britischen Top-Ten, seine Deutschland-Premiere bei der Warner Music Night im Gruenspan und überzeugte das Publikum mit seiner kraftvollen Stimme. Ein rothaariger Kobold, gerade mal 20 Jahre jung. Schon beim Empfang seiner Plattenfirma im East war er (lässig im FC-St.-Pauli-Sweater) einfach aufs Mobiliar gestiegen und spielte auf der Gitarre seinen Hit "The A-Team". Erfolg braucht oft kein großes Equipment, sondern schlicht die Liebe zur Musik, die Liebe zu den Tönen.

Eine Ungezwungenheit, die sich herumspricht. "Die Berichterstattung über das Festival in Magazinen und Blogs wächst", erzählt Ian Roberts aus London, der für die Hamburg Marketing eine Delegation britischer Journalisten betreut. Vor zwei, drei Jahren hätte die Branche in England zwar gewusst, was die Reeperbahn ist, jetzt aber kennen sie das Festival. "Ein Wort, das ich von internationalen Besuchern die ganze Zeit höre, ist relaxed", sagt er.

Entspannt ist auch der schmale Typ, der sich auf das alte Sofa im Sommersalon sinken lässt. "Hi, ich komme aus Tel Aviv. Weißt du, was das bedeutet: Knol?", fragt er. Noch ist Tim Knol der Name eines einzelnen, pilzköpfigen Musikers, der mit seiner Band beim Showcase der Niederlande melodiösen Rock zwischen den Stones und Wilco hinlegt. Doch schon bald könnten seine Songs eine Bedeutung für mehr Menschen haben, wenn sie, wie beim Reeperbahn-Festival, in die Welt hinausgehen. In der Nummer "Sam's Leaving Town" singt er von den Risiken, die einzugehen sind, um den Rock'n'Roll zu leben. In Knols Fall hilft ein Exportbüro, um die Kunst im Ausland auf die Bühne zu bringen. Wie auch bei den Dänen, die für einen Abend im Indra aufspielen.

"Das Reeperbahn-Festival ist für uns mittlerweile die Pforte, um Künstler auf dem deutschen Markt zu zeigen", erzählt Thomas Rode, Chef von Music Export Denmark, im Indra-Biergarten. Doch auch für regionale Acts kann der Klubreigen vor der eigenen Haustür Starthilfe sein. Wer weiß, welcher Talentsucher etwa den rappelvollen Gig von The Dashwoods aus dem niedersächsischen Zeven in der Molotow Bar gesehen hat. Die Scheibe beschlagen, die Fans auf den Füßen der Musiker. Und wer Drummer Antoine Laval, 22 Jahre jung, danach nass geschwitzt auf der Straße hat stehen sehen, aufgelöst und grinsend, der weiß: Rock'n'Roll ist kein Käse, das ist das ganz große Glück.