Die ehemalige Korrespondentin Karin Toben stellt ein neues Buch vor. In 20 Reportagen beleuchtet sie Lebenswege am Schicksalsfluss.

Amt Neuhaus. Als ehemalige Korrespondentin der Deutschen Presse Agentur hat Karin Toben schon einiges erlebt, das ihr unter die Haut ging wie etwa die schrecklichen Bilder bei der ICE-Katastrophe in Eschede 1998. Abgestumpft ist sie deshalb aber nicht. Menschliche Schicksale berühren sie. Das wird deutlich als sie von den Dramen und Tragödien erzählt, die sie in ihrem Buch "Weite Heimat Elbe - Lebenswege an einem Schicksalsfluss" im Reportagestil aufgeschrieben hat. 20 Geschichten hat sie recherchiert, die sich zwischen dem Zweiten Weltkrieg und 1985 ereigneten und bis heute nachwirken. Sie alle spielten sich an der Elbe zwischen Lauenburg, Bleckede, Amt Neuhaus, Hitzacker und Dömitz ab.

Toben gerät beim Erzählen immer wieder ins Stocken, ringt um die richtigen Worte als es zum Beispiel um die beiden Jungen Reinhard Bergunde, 14, und den ein Jahr älteren Rainer Balhorn geht, die kurz vor Weihnachten 1970 versuchten, mit Hilfe von Autoreifen und Pferdegeschirr durch die Elbe von Stixe im Amt Neuhaus schwimmend in den Westen zu fliehen. Während der Jüngere es schaffte, starb der ältere der beiden Jungen bei der Flucht. Er trieb im Fluss ab und blieb in einer Buhne stecken. Dort starb er an Unterkühlung.

"Monate habe ich damit verbracht, die Geschichte zu erforschen, weil sich die Familien nicht der Erinnerung stellen konnten." So traf sie den Vater des verunglückten Rainer Balhorn. "Er war damals 93 Jahre alt und konnte noch immer nicht über das Unglück sprechen. Inzwischen ist er gestorben", erzählt Karin Toben, die dennoch über Umwege Kontakt zu einer Tante von Reinhard Bergunde knüpfen konnte, die in Neuhaus lebt. Sie brachte Licht ins Dunkel über die Hintergründe der Flucht. "Die Geschichte begann eigentlich schon vor dem Zweiten Weltkrieg in Pommern, als die Familien der Jungen auseinander gerissen wurden. Beide wollten 1970 in den Westen zu ihren leiblichen Müttern."

Auf Schweigen über die Schicksale in der Vergangenheit sei sie fast überall bei ihren Nachforschungen gestoßen, sagt sie. "Trotzdem sind viele Verwandte und Freunde froh, dass die Geschichten jetzt öffentlich werden. Bis auf eine wurden sie noch nie aufgeschrieben. Die Veröffentlichung bedeutet für die Angehörigen ein Stück Wiedergutmachung, weil die Täter benannt werden und das Unrecht aufgezeigt wird."

Wie im Fall eines 19-Jährigen aus Kaarßen im Amt Neuhaus, dessen Fluchtplan von einem Dorfbewohner verraten wurde. "Der junge Mann wurde von den Grenztruppen der DDR in Kaarßen gefoltert. Ihm wurde wochenlang auf die Hoden geschlagen", berichtet Toben. Anschließend kam er für zwei Jahre in das berüchtigte Gefängnis nach Bautzen. "Er hat die Tortur überlebt und wurde sogar ein anerkannter Bürger in der DDR, der als Maurer Auszeichnungen bekam." 1992 sei er an Hodenkrebs gestorben, so Toben aufgewühlt.

Auf die Geschichte des 19-Jährigen sei sie nur durch Zufall gestoßen, als sie über zwei andere junge Männer aus seiner Clique recherchierte, die im August 1970 von Kaarßen aus durch die Elbe in den Westen abgehauen waren. Sie waren nicht die einzigen aus dem Ort, denen die Flucht glückte. "Die Willkür des Totalitären hat mich nicht kalt gelassen und mir schlaflose Nächte bereitet", gibt sie zu. Daher sieht sie in ihrem Buch eine Mahnung. "Es geht bei jedem der Schicksale um Flucht und Neuanfang, die ihre Ursachen in totalitären Systemen haben." Es seien Lebenswege, wie sie so nur unter Diktaturen denkbar waren, in den Zeiten des Nationalsozialismus und der DDR, sagt sie. "Je mehr Zeitzeugen ich befragte, zu denen sich der Kontakt sehr oft zufällig ergeben hatte, desto größer wurde auch das jetzt sichtbare Ausmaß von Unrecht und Gewalt."

Davon zeugen unter anderem auch die Episoden im Buch "Die verbotene Erinnerung. Als der Bunker in Neuhaus zum Massengrab vor allem für Frauen und Kinder wurde", "Der Staat machte Mutter und Sohn zu Verbrechern. Familie Schröfel verliert im Sudetenland die Heimat und in der DDR ihren Ruf", "Die von der Stasi haben mich nicht gebrochen. Bomben, Mord und Stasigewalt erschüttern das Leben der Familie Recker", "So viel ist also ein Menschenleben wert. Ein Grenzsoldat tötet den vierfachen Vater Alfred Lill", "Ein Elfjähriger seilt sich ab in die eigene Freiheit. Klaus Teige - von der Spree an den Rio de la Plata bis zur Elbe" und "Butterkuchen, Aal und Gelber Richard. Die Idylle der Elbinsel Bitterwerder fällt dem Grenzregime zum Opfer".

Karin Toben, die aus Ostfriesland stammt, in Lüneburg als Journalistin arbeitete und lebte und 1995 nach Rassau ins Amt Neuhaus zog, sagt, mehr als 20 Jahre nach der Wende werde gerne vergessen, dass die Idylle der Flusslandschaft jahrzehntelang überschattet war. Von der Bedrohung einer unmenschlichen Grenze, die mit Nato und Warschauer Pakt waffenstarrende Verteidigungsregime trennte, die Menschen, die ihr Selbstbestimmungsrecht auch in einer Diktatur nicht aufgeben wollten, nachhaltig beschädigte.

Oder aber Lebenswege vorgab wie die der Flüchtlinge Harald Laubenstein und Erwin Schäfer. Bei ihrer Odyssee aus Bessarabien im Südosten Europas erreichten beide im April 1945 die Dömitzer Brücke. "Das Schicksal wollte es, dass das Kind Harald kurz vor der Zerstörung die Brücke passierte. Erwin kam eine Woche zu spät - so wurde der eine Bürger der BRD, der andere der DDR." Die Elbe war Scheideweg.

Karin Toben stellt am Sonnabend, 8. Oktober, um 15 Uhr in der Kirche in Neuhaus/Elbe ihr Buch mit einer Lesung vor. Die Vertreterin der Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Anne Drescher, wird die Einführungsrede halten.

Das Buch ist im Verlag Hermann Lüers, Jever, mit der ISBN-Nr. 978-3-9813621-9-0 erschienen. Erhältlich ist es in allen Buchhandlungen, unter anderem in der Buchhandlung Hohmann in Bleckede.