Hamburg. Für den Hamburger Filmemacher Hark Bohm ist Amrum die eigentliche Heimat. Jetzt erzählt er von einer Nazi-Kindheit genau dort.

„Am Grund des Wassers pickte eine kleine Strandkrabbe an seiner nackten Ferse.“ So steht es in diesem Buch geschrieben, dem es mehr als nur ein Anliegen ist, von der sinnlichen Erfahrbarkeit nordfriesischer Landschaft zu berichten. Es ist ein Junge namens Nanning Hagener, der durchs Watt stapft, „der Untergrund unter den Füßen lebte, flirrte regelrecht vor Leben“. Schnecken, Krebse, Muscheln, Würmer. Vögel gibt es auch, aber Nanning hat keinen Blick dafür, sein Erzähler dafür schon. Nanning ist unterwegs nach Föhr – auf dem Rückweg nach Amrum wird er von der Flut überrascht, so viel Thrill muss sein –, um dort seinen Onkel Jessen zu besuchen. Er wird ihn auffinden, baumelnd am Strick. Die Hakenkreuzfahne ist längst eingeholt.

„Amrum“, wie der Roman sehr nachvollziehbar heißt, ist ein geschichtlich in der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit angesiedelter Roman. Das war zuletzt literarisches Ralf-Rothmann-Gebiet. Der Berliner Autor siedelte seine Trilogie auch in Norddeutschland an, allerdings auf dem Festland, in der Schlei-Region. „Amrum“ ist ein Insel-Roman, ja: eine Hommage an das nordfriesische Eiland. Weshalb an der zitierten Stelle der Wattwanderung nach Föhr so nachdrücklich die Erzählerstimme spricht, also der Autor Hark Bohm selbst; man spürt, dass hier viel Liebe für einen Ort im Spiel ist.

Neuer Roman „Amrum“ von Hark Bohm: Eine Nazi-Kindheit auf der Nordseeinsel

In „Amrum“ erzählt der Groß-Flottbeker Filmemacher Bohm („Nordsee ist Mordsee“) von einer Kindheit auf Amrum, womöglich seiner eigenen. Andererseits: sicher nicht seiner eigenen, was jedes Detail angeht. Aber Bohms Amrum-Vergangenheit war schon öfter Thema; der bald 85-Jährige, der die allermeiste Zeit seines Lebens in der Geburtsstadt Hamburg verbrachte, bezeichnet Amrum als seine eigentliche Heimat.

Bekannt ist, dass sein Vater, der Diplom-Landwirt, Jurist und Bevollmächtige fürs bäuerliche Schrifttum Walter Bohm (1892–1977), ein ziemlich scharfer Nazi war und vorübergehend in der SS. Im Roman ist der abwesende Vater SS-Obersturmführer in Hamburg, die Mutter BDM-Führerin. Der junge Nanning ist auf Amrum gewissermaßen der Herr im Haus mit bald drei jüngeren Geschwistern. In diesem spannenden, szenisch angelegten Roman folgt man ihm als Lesender auf all seinen Wegen.

Es ist eine anarchische Zeit, in der der Krieg zu Ende geht und die Not groß ist. Nanning arbeitet für ein Stück Butter auf dem Bauernhof, fängt Schollen, sucht Enteneier als Tauschware für Honig. Sein bester Freund ist Hermann, beide sind immer in Gefahr, von den anderen Jungs abgezogen zu werden. Alle müssen schauen, wo sie bleiben.

Hark Bohms „Amrum“: Die Loyalitätskonflikte eines Heranwachsenden

Zeitloses Insel-Kolorit einerseits, zeitbezogenes Setting andererseits: Der Roman schafft es mit gelungener Dramaturgie, den Helden im fundamentalen Loyalitätskonflikt zu zeigen. Seine Eltern sind Hitler treu ergeben; er selbst weiß allerdings nicht einmal, was ein Jude ist. Die Unschuld der Jugend, in dieser Hinsicht ist sie gegeben. Tante Ena dagegen – Nanning wächst aufgrund des abwesenden Vaters in einem Matriarchat auf – lebte einst in Amerika und ist auch deswegen immun gegen den Nazi-Dreck. Onkel Theo ist ganz zu den Amerikanern übergelaufen. Überhaupt kriegen Nanning und Hermann, der übrigens anders als sein Freund komplett aus einer Familie von Hitler-Gegnern stammt, früh mit, was sich die Amrumer erzählen an diesen letzten Tagen des Krieges.

Die Regisseure Hark Bohm (l) und Fatih Akin im Jahr 2018: Das Duo schrieb mehrere Drehbücher miteinander.
Die Regisseure Hark Bohm (l) und Fatih Akin im Jahr 2018: Das Duo schrieb mehrere Drehbücher miteinander. © picture alliance / Georg Wendt/dpa | Georg Wendt

Nämlich dies: Es kämpfen mehr Amrumer aufseiten der Alliierten als für Hitler. Der Roman hätte leicht kolportagehaft werden können gerade in den Momenten, die die Ankunft von Briten und Amrum-Amerikanern zeigen. Einmal führt Nanning einen ausgewachsenen Bullen über den Strand, eine absurde Szenerie. Vor allem deswegen, weil der Bub dort auf die Verwandtschaft trifft, und zwar den siegreichen Teil von ihr. Der Riss, der im besseren Fall durch Familien gehen konnte, ist Thema dieses fesselnd erzählten Stoffs.

Hark Bohm und Fatih Akin: „Amrum“ ist ihre nächste gemeinsame Arbeit

Dieser Stoff ist in seiner Bearbeitung ein Mehrere-Urheber-Konstrukt. Der Autor Philipp Winkler, 2016 mit seinem Fußball- und Gewalt-Roman „Hool“ für den Deutschen Buchpreis nominiert, fungiert als Co-Autor. Es ist das literarische Debüt des Filmemachers und Drehbuchautoren Bohm, da war Teamarbeit gefragt. Eine Teamarbeit, die Bohm bestens kennt. Mit Fatih Akin schrieb er die Drehbücher zu „Tschick“, „Aus dem Nichts“ und nun auch „Amrum“. Der Roman wird derzeit mit Regisseur Akin verfilmt, bald starten die Dreharbeiten auf der Insel. Im Cast sind unter anderem Diane Kruger, Laura Tonke und Lisa Hagmeister.

Das Buchcover von Hark Bohms „Amrum“, Ullstein-Verlag, 300 S., 24 Euro
Das Buchcover von Hark Bohms „Amrum“, Ullstein-Verlag, 300 S., 24 Euro © ullstein | Ullstein

Die filmischen Qualitäten der Geschichte des jungen Hanning sind im Roman leicht zu identifizieren. 2025 soll der Film in die Kinos kommen. Die vorherige Lektüre der Romanvorlage lohnt sich unbedingt. Sie ist ein lebendiges Zeugnis einer vergangenen Epoche, die mit ihren Zumutungen auch eine kleine Insel in der Nordsee nicht verschonte. „Amrum“ ist ein Entwicklungsroman und einer über Freundschaft; wir lesen vor allem auch, wie Gewissensfragen auf jungen Seelen lasteten. Der Roman schafft es, nachvollziehbar aus der Perspektive eines Kindes zu schildern, wie Erwachsene in Zeiten des Krieges zu wenig verlässlichen Autoritäten wurden.

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Die Nazi-Verstrickungen einer kleinen Gemeinschaft, in der die soziale Kontrolle auf engstem Raum stattfindet (trotz der Weite des Horizonts hinter den Dünen), werden in „Amrum“ mit erzähltechnisch nicht sonderlich großem Aufwand geschildert. Es reicht, wenn sich eine Bäuerin abfällig über den „Führer“ äußert und der Heranwachsende unabsichtlich petzt.

Hark Bohm, auf dem Fähranleger Teufelsbrück in Hamburg
Hark Bohm, auf dem Fähranleger Teufelsbrück in Hamburg © picture alliance/dpa | Ulrich Perrey

Gut und Böse ist in vielen Fällen in diesem Roman leicht ersichtlich. Interessant wird es, wenn Beides in einer Person zusammentrifft. Das ist der Punkt, den Bohm in diesem Alterswerk über die Kindheit auf unterhaltsame Weise immer wieder streift.

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