Folge acht der Abendblatt-Serie: Wie der Boxer Gustav “Bubi“ Scholz zu einem legendären Helden deutscher Nachkriegsgeschichte wurde - und durch private Probleme später tief fiel

Von OSKAR BECK

Am 4. Oktober 1958 unterbrach Peter Frankenfeld seine Samstagabend-Show für eine Eilmeldung, sein Gesicht verhieß nichts Gutes. Es ist kein nationales Unglück, bereitete der Maestro sein Publikum mit stockender Stimme auf eine unangenehme Nachricht vor. Betreten fingerte er an seinem karierten Sakko bis er plötzlich die Stimme hob und rief: Es ist kein nationales Unglück für Frankreich, dass der neue Europameister im Mittelgewicht Bubi Scholz heißt!

Tosender Jubel im Saal, Glücksgeschrei vor den Bildschirmen in ganz Deutschland. Groß war der Augenblick, groß die Gefühle wie die des Helden.

Der Sieger Scholz hat seine Emotionen in jenem Moment, als der französische Titelverteidiger Charles Humez im Berliner Olympiastadion den Arm zum Zeichen der Aufgabe hob, hinterher so beschrieben: "Ich habe meinen Nanga Parbat erklommen". So hat sich Amundsen gefühlt, als er den Pol erreichte, Edison, als er die Glühbirne erfand, und Otto Lilienthal, als er zum ersten Mal flog.

Kann sich Scholz noch daran erinnern? In seinen schlimmsten Stunden, so heißt es, weiß er nicht einmal mehr, dass er Boxer war. Doch bevor wir über die Tragödie und den Zerfall des kranken, alternden Gustav Scholz reden, wollen wir den Bubi in ihm beschreiben, der vierzig Jahre jünger ist und ein strahlender Sonnyboy.

Bübi, rufen ihn in jenem Oktober '58 die Franzosen. Sein Körper, schwärmt "L'Equipe", hat die griechische Klarheit, die einen Bildhauer verführen und die Sexbombe Jayne Mansfield zum Zittern bringen könnte. Bubi, der deutsche Boxgott. Dieser linke Haken. Sein Auge. Seine Reflexe. Die baumelnden Arme. Der pendelnde Oberkörper. Hat ihn je einer richtig getroffen? Humez, dieser stiernackige Kerl, den sie den "Löwen aus Flandern" nannten, jedenfalls nicht.

Bubi! Bubi! Das Olympiastadion lag ihm zu Füßen - an jenem Abend boxte sich Bubi Scholz in die deutsche Heldengalerie, zu Max Schmeling, Fritz Walter und den Silberpfeilen von Mercedes.

Gustav (Bubi) Scholz. Das ist keine reine Boxergeschichte, es ist die Nachkriegsgeschichte eines Aufsteigers im zerbombten Berlin. Bubi, Jahrgang 1930, der Hinterhofsteppke und Arbeitersohn vom Prenzlauer Berg. Der Hitlerjugend folgt der Hunger. Er schlägt sich als Schwarzmarkthändler durch die Trümmer, als Kochlehrling, als Zeitungsfahrer. Durchboxen, hochboxen, darum gehts, also wird er Boxer. Er will sein Stück von der Wohlstandstorte. In seiner Villa im Grunewald hängt er Banknoten aus Frottee an die Wand.

Bubi, der Meisterboxer. Der Hahn im Korb der Prominenz. Willy Brandt, O.E. Hasse, Curd Jürgens, Hildchen Knef, Harald Juhnke. Noch auf dem Weg zum Ring witzelt Bubi kaltschnäuzig hinüber zu seinen Schauspielerfreunden: Heut Abend wird aber nicht vom Theater gequatscht, das Thema ist Boxen. Sie lieben seine Chuzpe.

Sie lieben ihn als Sieger.

Doch Ruhm kann zur Sucht werden. Plötzlich ist die Party vorbei, der Entzug ist fürchterlich. Ein Held in den Wechseljahren. Depressionen. Scholz ertränkt seine Ängste im Alkohol. Einsam setzt er sich im Partykeller seiner Villa vor die Leinwand und spult die alten Filmrollen ab, den WM-Fight gegen den Amerikaner Harold Johnson - aber vor allem den Humez-Kampf.

Der Abend seines Lebens. Immer wieder holt er ihn sich zurück. Wie in Trance besäuft er sich an den großen Bildern: Wie er Humez austanzt, wie er ihn zum letzten Schlagabtausch fordert - wie dieser zähe Kerl, der nie k.o. war, nach zwei Minuten und zwanzig Sekunden der zwölften Runde die Hand hebt und in seine Ecke wankt, kein Löwe mehr, nur noch ein zerstörter Boxer. Bubi! Bubi!

In diesen Momenten ist Scholz wieder der gefeierte Held, der Schlagersänger, der Filmschauspieler, der Geschäftsmann. Eine Werbeagentur, zwei Parfümerien. Doch am nächsten Morgen weicht der Rausch der Ernüchterung, dem Kater, der Leere. Scholz geht zu Grunde. Seine Frau Helga auch. Sie sitzen in ihrer Villa, streiten und trinken und schlucken Tabletten. Zwischendurch spielt er Golf.

Vielleicht wäre die Katastrophe zu vermeiden gewesen, wenn er sich auch am 22. Juli 1984 mit seinem Hobby betäubt hätte. Das ZDF übertrug die British Open, kurz vor Mitternacht - doch Scholz saß nicht vor dem Fernseher, sondern mit der Jagdflinte volltrunken im Sessel. Als sich Harry Valerien aus St. Andrews meldete, muss sich fast gleichzeitig in Berlin der verhängnisvolle Schuss gelöst haben - durch die Tür der Toilette traf Scholz seine Frau.

Totschlag. Drei Jahre Gefängnis. Selbstmordversuche. Alles hat er verloren, das Glück, die Villa, die Gesundheit. Schlaganfälle. Herzinfarkt. Das Gedächtnis lässt ihn im Stich. Nichts ist ihm geblieben, nicht einmal die Erinnerung an den Kampf, der ihn zum Volkshelden machte.

Bubi! Bubi!

Sie stecken ihn nach dem Schlussgong in einen riesigen Kranz aus Lorbeerblättern, und animiert vom Stadionsprecher zünden 30 000 Berliner spontan ihre Streichhölzer an, als Freudenfeuer. Der Trubel des Triumphs ist überwältigend, doch der große Sieger vergisst nicht den Verlierer: Bubi Scholz lässt in jener Nacht an Suzanne Humez ins Hotel Lichtburg einen Strauß schicken, und auf der Karte, die zwischen den Blumen steckt, steht: Es kann keiner besser siegen, als Ihr Mann verloren hat. Charles Humez boxt nie wieder. Er stirbt 1979 nach einem Blutsturz, mit nur 53. Doch das Schicksal verschont auch die Sieger nicht.

Nächsten Mittwoch:

Als der blonde Blitz einschlug. Armin Harys 10,0 über 100 Meter.