Was, wenn der Diktator einen Sohn mit seiner Geliebten Eva Braun gehabt hätte? In seinem verrückt-fantastischen Politkrimi über den fiktiven Siegfried versucht der holländische Autor Harry Mulisch einmal mehr, seine Erfahrungen während der Nazizeit zu verarbeiten.

Beim Glas Wasser erzählt der Schriftsteller Harry Mulisch von der Stadt. Sie liegt in Mitteleuropa, wird von einem Fluss durchzogen, die Seelen der Menschen sind abgründig tief und Schauplatz seines letzten Romans: "Hitler und Wien. Das Thema hat mich immer schon mächtig angezogen. Ich wollte wissen, was das ist, das absolute Böse."

Anstatt nun endlich Kurs auf die Pension zu nehmen, hat sich der 74-Jährige noch einmal hingesetzt, seine letzten Mutmaßungen über Hitler in Buchform gebracht und Wien zum Schauplatz einer klugen Story gemacht, die spannend entwickelt ist, und spannend zu lesen ist sie auch noch. Mulisch glaubt, jeder Autor ist Gott. Nur dass Harry Mulisch, Hollands geistreichster Essayist, in seinem Roman "Die Entdeckung des Himmels" den Beweis dafür gleich mitgeliefert hat und darin - allein in Deutschland bisher rund 350 000-mal verkauft - die Schöpfungsgeschichte noch einmal erzählt.

Wie aber kann man ein derartiges Meisterwerk noch überbieten? Ganz einfach: indem man "Siegfried" schreibt und darin erstmals eine Menge aus seinem Leben dem Leser mitteilt. Hitlers Sohn, das ist nämlich der Grundeinfall des Buches. "Wenn ich zu graben beginne, darf ich auch keine Angst haben, dass ich mich dabei selber nackt darstelle", sagt der große Liebhaber und Verehrer der deutschen Sprache, dem wir in seinem Amsterdamer Herrenzimmer bei einer qualmenden Pfeife gegenübersitzen und dabei auf den Hinterhof gucken.

Es freut ihn, dass es ein Korrespondent aus Deutschland ist, der als erster ausländischer Journalist mit ihm über seinen neuen Bestseller reden will. Vor allem freut es ihn, dass der Besucher ihm für seinen Hauptdarsteller, so Mulisch, auch noch seinen Namen "geliehen" hat. "Das kann doch kein Zufall sein."

Harry Mulisch hat noch nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er von Wien, von Adolf Hitler und dem Nazismus sein Leben lang fasziniert ist. Vor allem ist es doch die eigene Geschichte, die ihn immer wieder beschäftigte. Als Kind einer deutsch-jüdischen Mutter, die im flämischen Antwerpen als Lehrerin arbeitete. Sein Vater war ein österreichischer Offizier, der bei der Amsterdamer Liro-Bank jüdisches Eigentum arisierte und in Holland als Kollaborateur verurteilt wurde. Mulisch, der die Akte seines Vaters beim Niederländischen Institut für Kriegsdokumentation (Niod) einsah, hat wie kein anderer Autor niederländischer Sprache sein Werk dem Dritten Reich gewidmet. Bei ihm erfährt man viel über Gewöhnliches und Alltägliches in Zeiten des Faschismus: "Hitler ist das absolute Böse und von allen Diktatoren der einzige, an dem noch etwas Geheimnisvolles klebt. Über den Mann sind Tausende von Büchern geschrieben worden, ich selber besitze 1,75 Meter Hitler-Bücher. Mich interessiert jedoch die Frage, wie hat es Hitler geschafft, ein Kulturvolk wie die Deutschen, das im Gegensatz zu Österreichern, Franzosen oder Polen keine antisemitische Tradition kannte, zu Antisemiten zu machen? Man muss von einem Anschluss Deutschlands an Österreich sprechen und nicht umgekehrt. Da ich schon immer verrückt war, habe ich mich auf das Thema eingelassen", erzählt Mulisch, während er sich seine zweite schwarze Pfeife mit dem weißen Punkt stopft.

"Ich bin der Zweite Weltkrieg, diese Zeit steckt mir im Blut", kommentiert Mulisch die eigene Geschichte, die ihn immer wieder beschäftigt, und erzählt von seiner Jugend in Haarlem und dem Versuch, die kaputte Ehe seiner Eltern zu kitten. Seine Mutter starb vor zwei Jahren in San Francisco. Das Dritte Reich, das sind die Bilder, die er braucht zum Schreiben. "Daher wollte ich am Ende des 20. Jahrhunderts etwa Endgültiges über Hitler zum Ausdruck bringen. Ich hatte begriffen, dieses Phänomen kann man nur mit Hilfe literarischer Fantasie begreifen. Meine Theorien habe ich mir ohnehin immer selber gemacht. Dieser fiktive Roman ist mein letztes Wort zum Thema Hitler."

Worum geht es in "Siegfried, eine schwarze Idylle", Mulischs 13. Roman? Harry Mulisch erzählt von Rudolf Herter, seinem leicht verfremdeten Doppelgänger, der zusammen mit seiner 30 Jahre jüngeren Frau in Wien, der Stadt seines Vaters, Hitlers und der kleinbürgerlichen antisemitischen Philister, sein Buch "Die Erfindung der Liebe" vorstellen soll und im Hotel Sacher absteigt. Durch Zufall - aber was ist bei Mulisch schon Zufall? - trifft er auf Ullrich und Julia Falk, und die erzählen Herter die unglaubliche Geschichte. Die Falks waren Hausangestellte von Adolf Hitler und seiner Geliebten Eva Braun auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden. Eva Braun, so die Erzählung der Falks, habe von Hitler ein Kind bekommen, Siegfried. Weil aber Hitler kein Kind haben durfte, schließlich lieben ihn ja alle deutschen Frauen, wird das Kind den Falks untergeschoben. 1944 habe Hitler den Auftrag gegeben, seinen Sohn zu ermorden.

Ohne falsche Nähe und unkritische Zuneigung, boshaft und detailliert beschreibt Mulisch das Rätsel Hitler als die Inkarnation des großen Nichts. "Das ist das Mysterium dieses Romans, in dem das Geheimnis um Siegfried Hitler bewahrt bleibt, dass er voller Symbolik ist und Bezüge und seine Wahrheit am Ende ganz einfach sind. So soll es sein", erklärt Mulisch seine Theorie des Erzählens.

Seine Souveränität - Thomas Mann ist für Mulisch das ganz große Vorbild - zeigt sich gerade darin, wie er die verschiedenen Traditionen mischt, wie sein Alter Ego die Nibelungensage, den Tristan-und-Isolde-Mythos, die Philosophien von Nietzsche, Schopenhauer, Heidegger vermengt und stets die Balance wahrt. Auf wunderliche Art und Weise ist das Mulisch-Werk eine bemerkenswerte Arbeit - und spannend wie ein Politkrimi außerdem.

Ian Kershaw muss seine Hitler-Biografie nicht umschreiben, auch wenn Siegfried als die literarische Sensation des Jahres in den Niederlanden gilt. Die Erstauflage von 70 000 Exemplaren war innerhalb weniger Tage ausverkauft. Inzwischen ist die dritte Auflage herausgekommen. Neugierig ist Mulisch darauf - im Gegensatz zu seinem Freund Cees Nooteboom wird er auch im eigenen Land gelesen -, wie das deutsch-österreichische Publikum auf seinen Siegfried reagieren wird, und darauf, wie sich die deutsche Übersetzung (sie soll im Spätsommer bei Hanser in München erscheinen) lesen wird. Harry Mulisch: "Im Deutschen wird sich mein Buch ganz anders lesen. Hitler spricht ja bei mir niederländisch."

Hartnäckig hält sich die Legende, niederländische Autoren läsen sich im Deutschen besser als im Original. Mulisch findet das Blödsinn. Beim Literaturfonds, dem Propagandainstitut, das der niederländischen und friesischen Literatur Weltgeltung verschaffen soll, glaubt man, warum das sein könnte: "Deutsche Übersetzer sind literarischer, als wir es je waren, da sie auf eine große literarische Tradition bauen können, die sich mit der niederländischen nicht vergleichen lässt." Außerdem hätten Deutsche ein anderes Sprachgefühl.

Andererseits: Wurden Leser dieser Literatur von Holländern an der Nase herumgeführt, weil ihnen schlechte niederländische Bücher verkauft wurden? Der Literaturkritiker Arjan Peters von der Tageszeitung "De Volkskrant" hatte einst die Glaubwürdigkeit der literarischen Kritik in Frage gestellt und gezeigt, wie zynisch Literaturkritik sein kann. Schrieb er in seiner Zeitung süffisant vernichtende Kritiken, so wurden dieselben Werke in den Literaturfonds - Blättern wie "Six Books" und "Nieuwsbrief", für ausländische Leser bestimmt - von ihm mit allzu flotten Sprüchen hochgejubelt. Die Namen der Autoren-Opfer war prominent und die Liste lang: Renate Dorrestein, Tessa de Loo, Adriaan Morrin, Leon de Winter. Ob Tomaten, Käse oder Bücher. Als Kaufleute sind Holländer unschlagbar. Auch beim Literaturfonds gehts um Marketing, wird nichts dem Zufall überlassen. Das Ziel heißt nämlich, einmal den Nobelpreis für Literatur nach Holland zu holen. Rudi Westers, Direktorin des Vereins, hat auch einen Kandidaten: Harry Mulisch. Um die Schweden auch davon zu überzeugen, werden Mulischs wichtigste Romane ins Schwedische übertragen - sozusagen als flankierende Maßnahme. Und Mulisch selber? Er glaubt auch, dass er diesen Preis schon längst verdient hätte.

Mangel an Bescheidenheit kann man Harry Mulisch nicht vorwerfen. Er weiß, viele im Land mögen ihn wegen seiner vermeintlichen Arroganz nicht. Der Goethe von Amsterdam, wie ihn seine Spötter nennen, sagt: "Ein Schriftsteller muss von einer Obsession getrieben werden, ohne diese Zwangsvorstellung hätte ich auch nicht diesen verrückt- fantastischen Roman schreiben können."