Mainz. Er habe Putin falsch eingeschätzt, gibt Sigmar Gabriel bei „Maybrit Illner“ zu. Damit das nicht noch einmal passiert, warnt er.

Mitten in der Sendung war es dann tatsächlich so weit. Über ihr Headset erfuhr Maybrit Illner, dass eben jene Frage über die sie gerade noch ausführlich mit ihren Gästen diskutiert hatte, Realität geworden ist. Die Vereinigten Staaten haben der Ukraine die Erlaubnis erteilt, US-Waffen gegen Russland einzusetzen. Zumindest in der Nähe der hart umkämpften ukrainischen Stadt Charkiw, die nur 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt liegt. Die Entscheidung stellt eine Kehrtwende von Präsident Joe Biden dar, der sich bisher geweigert hatte, der Ukraine den Einsatz amerikanischer Waffen für Angriffe innerhalb Russlands zu gestatten.

Die Eilmeldung hätte nicht besser zur Titelfrage des Abends „Verteidigung oder Angriff – wie weit darf Kiew gehen?” passen können. Doch auch vor der Bekanntgabe scheuten sich ihre Gäste nicht, Stellung zu beziehen. Es sei beinahe „verrückt” von den Ukrainern zu verlangen, die Völkerrechtsverletzungen Russlands einfach so hinzunehmen, ohne die Stellungen auf russischem Territorium anzugreifen, meinte Sigmar Gabriel mit Blick auf die Situation in Charkiw.

Gabriel bei Illner: Konflikt betrifft ganz Europa

Gleichzeitig betonte der ehemalige Außenminister im Laufe des Abends mehrfach, dass der aktuelle Konflikt eben nicht nur Russland und die Ukraine betreffe, sondern ganz Europa: Wenn Putin einmal gewinnt, „dann weckt das Appetit und dann macht der weiter”, erklärte Gabriel, bevor er noch deutlicher wurde: „Wenn die Ukraine verliert, sind wir nicht in einer Nachkriegszeit. Dann leben wir in einer Vorkriegszeit”.

Diese düstere Ansicht teilte auch die Russlandexpertin Sabine Fischer. Sie glaube zwar nicht, dass zwei Monate nach einem Sturz der Ukraine auf einmal „Panzer in Lissabon stehen”, doch die Folgen wären dennoch immens: eine neue Fluchtbewegung, akute Gefahr für die Republik Moldau und eine enorme Belastung für das westliche Bündnis. Russland sei „eine systemische Bedrohung”, sagte Fischer.

Einen optimistischeren Blick auf die aktuelle Lage teilte der ehemalige Oberbefehlshaber der US-Armee in Europa Ben Hodges. Im Studio warnte er vor „viel zu viel Schwarzmalerei” und lobte stattdessen die Ukraine für ihre immense Leistung, sich trotz russischer Übermacht zu verteidigen. Russland hingegen habe „trotz der Vorteile” in fast jeder Kategorie „immer wieder versagt”, erklärte er. Nach zwei Jahren Krieg hätten sie gerade einmal ein Fünftel der Ukraine eingenommen, zahlreiche Verluste erlitten und mussten sich mit ihrer Marine zurückziehen.

Putin droht mit Nuklearwaffen

Mit Blick auf die bisherige Unterstützung des Westens urteilte er hart: „Wir haben es noch nicht einmal richtig versucht!” Sowohl Joe Biden als auch Olaf Scholz hätten eine „übertriebene Angst, dass Russland eine Nuklearwaffe einsetzen könnte” und würden deshalb zögern. Daran glaube Hodges jedoch nicht. Russland habe keinen Vorteil davon, eine Nuklearwaffe gegen den Westen einzusetzen. Sein einziger Vorteil sei es „eine Drohung aussprechen zu können”, meinte Hodges.

In die Sendung zugeschaltet war auch Mychajlo Podoljak, ein enger Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Auch er warb darum, vom Westen gelieferte Waffen gegen militärische Ziele in Russland einsetzen zu dürfen. Dies entspräche dem Völkerrecht, betonte Podoljak. Die Entscheidung dafür oder dagegen, bezeichnete Podoljak sogar als „historischen Moment” der
über den weiteren Verlauf entscheiden könne. „Russland ist das Land, das immer wieder eskaliert. Wenn die Ukraine sich verteidigen kann, wird das zur Deeskalation führen”.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt