Berlin. Der Kremlchef vergleicht den Kampf der Sowjetunion gegen Hitler mit dem Ukraine-Krieg. Ein Appell an den Durchhaltewillen der Russen.

Der russische „Tag des Sieges“ 79 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde zur großen Patriotismus-Show. Die Militärparade in Moskau mit 9.000 Soldaten, Raketen und Panzern war pompös und sollte den Glanz der Weltmacht Russland unterstreichen. Präsident Wladimir Putin, eingerahmt von ordensgeschmückten Veteranen, nutzte den Tag zur Verbreitung seiner zentralen Propaganda-Botschaft: Wie damals die Sowjetunion kämpft Russland heute gegen den Feind im Westen. Wie damals im „Großen Vaterländischen Krieg“ triumphiert Russland heute gegen die Ukraine und ihre Unterstützer aus den Nato-Ländern.

Putins Rede war allerdings im Ton moderat. Der Kremlchef verzichtete auf die große verbale Konfrontation mit dem Westen, auch wenn er die Alarmbereitschaft seiner nuklearen Streitkräfte kurz erwähnte. Mit der Ankündigung einer Atomwaffenübung nahe der Grenze zur Ukraine hatte er bereits vor wenigen Tagen eine gewaltige Drohkulisse aufgebaut.

Putin instrumentalisiert den Mythos von der Opferbereitschaft Russlands

Putin instrumentalisierte den Mythos vom unbeugsamen Widerstandswillen und der Opferbereitschaft Russlands für seine Zwecke. Der Stolz auf den Sieg gegen die Truppen Adolf Hitlers sind Teil der russischen DNA. 27 Millionen Menschen verloren in der Abwehrschlacht ihr Leben.

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Der Kremlchef betreibt allerdings Geschichtsklitterung, wenn er die Jahre nach der Nazi-Invasion 1941 mit dem Ukraine-Krieg vergleicht. Die ukrainischen Truppen sind für ihn die „Neonazis von heute“. Der Westen, der die Ukraine mit Waffen unterstützt, wird damit zu „Helfershelfern“ der „Neonazis“. Alles Übel für Russland gehe auf eine große Verschwörung des Westens zurück, lautet das Narrativ des ehemaligen KGB-Offiziers.

Russland kündigt Übung seiner Nuklearstreitkräfte an

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    Putin sieht Russland und China vereint gegen den Westen

    Interessant, dass Putin das Anrennen der Sowjetunion gegen Hitler in Beziehung setzt zum „Mut des chinesischen Volkes“, das „für seine Unabhängigkeit gegen die Aggression des militaristischen Japans gekämpft hat“. Durch die Kreml-Brille betrachtet ist dies die historische Untermauerung des heutigen Schulterschlusses: Russland und China sind vereint gegen die lange Zeit vom Westen dominierte Weltordnung.

    Der erste Adressat von Putins Ansprache war allerdings die russische Bevölkerung. Man darf nicht vergessen: Der Ukraine-Krieg, der in Russland immer noch „militärische Spezialoperation“ heißt, verläuft nicht so komplikationslos wie von der Führung versprochen. Auch mehr als 26 Monate nach Beginn des Einmarsches haben die Russen noch nicht den kompletten Donbass unter Kontrolle. Ganz zu schweigen von den vermutlich mehr als 100.000 getöteten russischen Soldaten.

    Michael Backfisch ist freier Autor für internationale Politik.
    Michael Backfisch ist freier Autor für internationale Politik. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

    Russlands Präsident sieht sich auf einer historischen Mission

    Putin weiß zwar, dass eine große Mehrheit der Bürger nach wie vor hinter dem Ukraine-Krieg steht. Aber immer mehr Menschen fragen sich, wie lange der Militäreinsatz noch dauert. Der Präsident appelliert daher an den Durchhaltewillen und die Leidensbereitschaft seiner Landsleute. Auch hier schlägt er die Brücke zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der Lage heute: Das „Schicksal der Menschheit“ sei in den „grandiosen Schlachten“ von Moskau, Leningrad, Stalingrad, Kiew oder der Krim entschieden worden. Der Ukraine-Krieg soll daran anknüpfen.

    Dies macht erneut deutlich, dass sich der russische Präsident auf einer großen historischen Mission sieht. Die Wirtschaft wurde auf Kriegsproduktion getrimmt, die Gesellschaft wird immer mehr militarisiert. Putin hat sein Land auf einen langen Waffengang in der Ukraine eingeschworen, den er zu einem zweiten „Großen Vaterländischen Krieg“ mythologisiert. Aus seiner Sicht hat er nur zwei Optionen: Sieg oder Diktatfrieden.

    Russland-Reportagen von Jan Jessen