Brüssel/London. In Großbritannien steht die Labour-Partei vor einem Erdrutschsieg – mit Folgen auch für die EU. Manche sehen die Rückkehr der Briten.

Endlich eine Wahl ohne Hiobsbotschaft für Europa: Wenn Großbritannien am Donnerstag ein neues Parlament wählt, ist ein Sieg der sozialdemokratischen Labour-Partei nach 14 Jahren konservativer Tories-Regierung so gut wie sicher – wahrscheinlich erzielt Labour unter dem Vorsitzenden Keir Starmer sogar die absolute Mehrheit im Unterhaus. Das wird Folgen für den Brexit haben, die schmerzende Wunde der EU: Labour will bessere Beziehungen zur Europäischen Union, neue Abkommen mit Brüssel. Mindestens. „Der erwartete Labour-Sieg gibt Hoffnung“, sagt die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Katarina Barley (SPD), unserer Redaktion. Es gebe „großes Potenzial für die Verbesserung der Beziehungen in vielen Feldern.“

Auf längere Sicht ist mehr drin, glauben britische Proeuropäer: Die Wahl könnte der Anfang vom Ende des Brexits sein. Kommen die Briten zurück in die EU? Ein erstes großes Projekt ist schon in Sicht: Ein neuer Sicherheitspakt zwischen London und Brüssel könnte das Schlüsselprojekt für die Annäherung sein. Großbritannien-Experte Nicolai von Ondarza von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin erklärt: „Nach der wechselseitigen Entfremdung durch den Brexit bietet sich eine Chance, die Beziehungen zwischen der EU und London zu reintensivieren.“  

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Die Ausgangslage ist klar: Nach Umfragen halten rund 60 Prozent der Briten den Brexit mittlerweile für einen Fehler. Mehr als 70 Prozent sehen eine wirtschaftliche Verschlechterung durch den EU-Austritt – vor allem durch höhere Preise, Fachkräftemangel und Reiseerschwernisse. Der Brexit verringert die britische Wirtschaftsleistung nach einer neuen Studie um umgerechnet rund 160 Milliarden Euro im Jahr. Allerdings: Für eine Rückkehr in die EU, den Exit vom Brexit, gibt es in Umfragen bisher keine Mehrheit.

Großbritannien: Bislang keine Mehrheit für den Exit vom Brexit

„Die politischen Wunden, die der Brexit-Prozess in Politikbetrieb und Bevölkerung gerissen hat, sitzen tief“, erläutert Ondarza. Daran will vorerst keine der beiden großen Parteien rühren. Das hat Folgen für die Wahlkampagne von Labour: Spitzenkandidat Starmer hat zwar als „Remainer“ für den Verbleib in der EU gekämpft. Aber im Wahlkampf sagt er: „Wir haben die Entscheidung getroffen, die EU zu verlassen, also werden wir nicht wieder eintreten.“

Sollte Keir Starmer wie von Demoskopen vorausgesagt die Unterhauswahl gewinnen, dürfte er schon zwei Wochen später Gastgeber eines großen Europa-Gipfels sein.
Sollte Keir Starmer wie von Demoskopen vorausgesagt die Unterhauswahl gewinnen, dürfte er schon zwei Wochen später Gastgeber eines großen Europa-Gipfels sein. © AFP | OLI SCARFF

Es steht zu viel auf dem Spiel: Gerade in den traditionellen Labour-Wahlkreisen in den Midlands und im Norden Englands war Ex-Premier Boris Johnson mit seiner Brexit-Kampagne besonders erfolgreich – diese Wahlkreise muss Starmer erst mal wieder zurückgewinnen. Seine Devise ist daher: Der Brexit soll besser funktionieren, nicht beendet werden. Das von Johnson ausgehandelte Handelsabkommen mit der EU sei schlecht, sagt Starmer, er werde daher „im Lauf von 2025 versuchen, einen deutlich besseren Deal für Großbritannien zu bekommen“.

Fünf Jahre nach Abschluss des Handels- und Kooperationsabkommens zwischen EU und Vereinigtem Königreich ist 2026 vertragsgemäß ohnehin eine Überprüfung der Vereinbarung fällig. Starmers Ziel: Lockerung der aufwendigen und teuren Grenzkontrollen für Tiere und Lebensmittel, bessere Handelsregeln, Anerkennung beruflicher Qualifikationen. Einfach wird das nicht. Führende Beamte in der EU-Kommission zeigen sich zwar erleichtert über die Aussicht, dass nach acht Jahren starker Spannungen mit wechselnden Tory-Premiers in London ein neuer, freundlicher und konstruktiver Ton angeschlagen werden dürfte.

EU und Großbritannien wollen verstärkt zusammenarbeiten

Aber grundlegende Änderungen am Handels- und Kooperationsabkommen sind nicht in Brüssels Sinn, solange die Briten nicht in die Zollunion und den Binnenmarkt zurückkehren wollen – was Starmer bisher ausschließt. Die Erleichterungen für Landwirte will die Kommission nach vorläufigem Stand nur durchwinken, wenn London bereit ist, die Aufsicht des Europäischen Gerichtshofes zu akzeptieren. „Das ist für uns die Bedingung für ein solches Abkommen“, sagt ein hoher Beamter der Kommission unserer Redaktion. Bliebe es allein bei diesem Vorhaben, wäre eine Annäherung ein kompliziertes Projekt.

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Doch längst wird in Brüssel und London an einer neuen Brücke gebaut: einer verstärkten Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik. Gedacht ist an die Schaffung eines strukturierten Abkommens mit regelmäßigen Treffen und Kontakten auf offizieller Ebene, Labour spricht schon von einer „neuen geopolitischen Partnerschaft“. Auf den ersten Blick sind der Ukraine-Krieg und der mögliche Wahlsieg Donald Trumps in den USA die Stützpfeiler der Annäherung.

Ein Schulterschluss bei Rüstungsbeschaffung oder Waffenlieferungen an die Ukraine sind naheliegende Themen. Schatten-Außenminister David Lammy wirbt aber auch schon dafür, den Sicherheitsbegriff weit zu fassen. Das heißt: Es ginge nicht nur ums Militär, sondern auch um Energie, Klimaschutz, KI-Regulierung, Cybersicherheit und Gesundheitspolitik. In der Außen- und Sicherheitspolitik dürfte der politische Spielraum für die nächste britische Regierung besonders groß sein, sagt Brexit-Experte Ondarza. „Auf der anderen Seite ist auch das Interesse der EU besonders hoch, London hier einzubinden.“

Mike Galsworthy: „Eine Rückkehr in die EU ist unvermeidlich“

Die engere Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik könne „ein positives Zeichen im gegenseitigen Interesse setzen und zudem mittelfristig Spielräume für eine engere Kooperation auf weiteren Feldern eröffnen“. Bis hin zu einer Rückkehr in die EU? Ondarza sieht eine Revision des Brexits mittelfristig nicht, es gehe eher um politische Annäherung und eine bessere Koordination. Aber: In Großbritannien setzen EU-Befürworter durchaus darauf, dass die erwartete Kooperation den Weg öffnet zurück in die Europäische Union.  

David Lammy, britischer Politiker, wirbt dafür, den Sicherheitsbegriff weit zu fassen.
David Lammy, britischer Politiker, wirbt dafür, den Sicherheitsbegriff weit zu fassen. © DPA Images | Tobias Hase

„Jeder versteht, warum Labour vorsichtig ist im Wahlkampf“, sagt der Chef der European Movement UK, Mike Galsworthy, der den Brexit rückabwickeln will. „Aber einmal an der Regierung, ändert sich die Verantwortung für die Bürger und das Land. Labour kann dann nicht einfach ignorieren, dass ein proeuropäisches Lager sie an die Macht gebracht hat.“ Eine Rückkehr in die EU, meint Galsworthy, sei unvermeidlich. Noch gibt es aus Brüssel eher zurückhaltende Signale: Die EU habe inzwischen zahlreiche neue Baustellen, der Brexit sei derzeit gar kein Thema, heißt es in der Führungsebene der Kommission.

EU könnte künftig Union der zwei Geschwindigkeiten sein

Aber das könnte sich ändern: Sollte Frankreichs Europakurs nach einem Wahlsieg Marine Le Pens ins Schlingern geraten, könnte eine Annäherung an Großbritannien plötzlich auch für die EU wieder attraktiver erscheinen. Die geplante EU-Erweiterung um die Ukraine, Moldau und die Westbalkan-Staaten befeuert zudem alte Überlegungen, in der Union unterschiedliche Geschwindigkeiten zu akzeptieren – einen engeren Kern von Mitgliedern, die stärkere Integration wollen, und drum herum eine Gruppe, die etwas weniger ehrgeizig ist. Das könnte eine Rückkehr für Großbritannien erleichtern.

Keir Starmer neuer Labour-Chef in Großbritannien

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    Wie die Dinge stehen, kann der mutmaßliche Wahlsieger Starmer wohl zwei Wochen nach der Unterhauswahl persönlich sondieren: Am 18. Juli dürfte er als frisch ernannter Premierminister Gastgeber sein für das nächste Gipfeltreffen der vor zwei Jahren gegründeten Europäischen Politischen Gemeinschaft: Die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten, der acht potenziellen Beitrittsländer und einiger Nachbarstaaten kommen dann im Blenheim Palace, dem Geburtshaus Winston Churchills in der Nähe von Oxford, zusammen.

    Eine glückliche Fügung für den Proeuropäer Starmer, es könnte keine bessere Gelegenheit geben, um zügig den Klimawandel in den Beziehungen zwischen London und Brüssel zu besiegeln: Die Eiszeit ist vorüber, die Zeichen stehen auf Annäherung – mindestens. .„Großbritannien ist ein wichtiger strategischer Partner“, sagt Europapolitikerin Barley, die selbst Halbbritin ist. Es gebe großes Potenzial für die Verbesserung der Beziehungen in vielen Feldern. Vor allem in Verteidigungsfragen baue sie auf ein engeres Miteinander, mit dem Ukraine-Krieg habe hier eine enge Abstimmung an Bedeutung gewonnen. „Eine Regierung unter Labour würde enger mit der EU zusammenarbeiten, auch wenn ein schneller Wiedereintritt in die EU nicht zu erwarten ist“, erklärt Barley: „Ich freue mich auf die Chance einer wieder engeren Beziehung.“