Er rettete Gorbatschow vor den Putschisten, verbot die KP - und ruinierte das Sowjetreich.

Hamburg. In seinem Klassiker "Sternstunden der Menschheit" von 1927 beschrieb Stefan Zweig jenen magischen Augenblick, in denen sich durch Zögern oder aber Tatkraft eines Einzelnen das Schicksal ganzer Nationen entscheiden kann. So wie sich durch das Zaudern von Napoleons Marschall Grouchy bei Waterloo Europas Schicksal entschied.

Boris Nikolajewitsch Jelzin, der gestern im Alter von 76 Jahren starb, war ein Mann, dem es gelang, den vorüberwehenden Mantel der Geschichte im richtigen Moment zu ergreifen. Der vierschrötige Mann aus Butka im Oblast Swerdlowsk, wo er am 1. Februar 1931 zur Welt kam, hat es bei allen Mängeln seiner Politik verdient, dass die Bilder und Anekdoten von Alkoholexzessen und peinlichen Auftritten irgendwann verblassen und den Blick auf den Staatsmann freigeben.

Boris Jelzin war bereits vor dem Zerfall der Sowjetunion ein Reformer und - obwohl ursprünglich selber Parteikader - Stachel im Fleisch der alten kommunistischen Nomenklatura.

1976 war der studierte Bauingenieur zum Parteichef von Swerdlowsk am Ural ernannt und fünf Jahre später in das Zentralkomitee der KPdSU gewählt worden. Ab 1985, dem Beginn der Gorbatschow-Ära, war Jelzin auch Parteichef von Moskau und damit ins Macht-Herz des Sowjetreiches vorgestoßen.

Gorbatschows doppelte Reform-Speerspitze gegen die altstalinistischen Verkrustungen - Perestroika (Umbau) und Glasnost (Offenheit) - wollte Jelzin jedoch derart vehement einsetzen, dass er sich den Zorn sowohl der Gorbatschow-Riege als auch der Konservativen zuzog.

Jelzin verlor seine Ämter und wurde mit dem Grüßaugust-Posten eines Ersten Stellvertretenden Vorsitzenden der Baubehörde im Ministerrang zunächst ruhiggestellt. Doch die ersten demokratischen Parlamentswahlen in der Sowjetunion spülten den energischen Politiker 1989 mit überwältigenden Mehrheiten in den Kongress der Volksdeputierten und danach auch in den Obersten Sowjet. Umgehend scharte Jelzin weitere Reformer um sich und bildete die erste echte parlamentarische Oppositionsgruppe.

Und bei den ersten freien Präsidenten-Wahlen wurde Boris Nikolajewitsch Jelzin im Juni 1991 zum ersten demokratisch gewählten Staatsoberhaupt in der Geschichte Russlands gewählt - das damals allerdings noch Teilrepublik der Sowjetunion war.

Jelzins historische Sternstunde kam, als die alte kommunistische Garde im August 1991 gegen Michail Gorbatschow putschte. Leuten wie KGB-Chef Wladimir Krjutschkow, Innenminister Boris Pugo oder Verteidigungsminister Dmitri Jasow gingen die Reformen viel zu weit. Auch befürchteten sie mit Recht die Loslösung etlicher Unionsstaaten.

Die Putschisten ließen unter dem Etikett "Staatliches Komitee für den Ausnahmezustand" Truppen in Moskau aufmarschieren, das Regierungsgebäude unter Feuer nehmen und Gorbatschow auf der Krim festsetzen.

Zehntausende aufgebrachte Bürger waren auf den Beinen, die Lage in Moskau war explosiv aufgeladen. Da erklomm Boris Jelzin behende einen Panzer, ein Megafon in der Hand, forderte die Rückkehr Gorbatschows und rief die Truppen in einem flammenden Appell dazu auf, nicht zur "blinden Waffe des verbrecherischen Willens von Abenteurern" zu werden. Er fand Gehör. Die hartgesottene Speznaz-Eliteeinheit "Alpha", die sich bereits zum Sturm auf das "Weiße Haus" anschickte, sah sich plötzlich Jelzin-loyalen Panzertruppen gegenüber. Nach drei Tagen war der Spuk vorbei, Gorbatschow wurde wieder eingesetzt.

Jelzin setzte sofort nach, verbot die Kommunistische Partei auf dem Gebiet Russlands. Die Macht der KP war damit nach 70 Jahren Herrschaft gebrochen - allerdings auch Gorbatschows Strahlkraft, der forthin in Jelzins Schatten stand und von diesem politisch gegängelt wurde.

Boris Jelzin, vorübergehend eine überlebensgroße Führerfigur wie aus einem Gemälde von Delacroix - "die Freiheit führt das Volk an" -, demontierte sowohl UdSSR als auch Gorbatschow im Rekordtempo. Bereits Ende 1991 löste sich die Sowjetunion auf, Gorbatschow trat als ihr erster und letzter Präsident zurück.

Festhalten konnte Boris Jelzin den glanzvollen Mantel der Geschichte jedoch nicht. Zwar ließ er Privatbesitz zu und holte die letzten russischen Truppen aus Osteuropa zurück. Doch in seiner Amtszeit halbierte sich das Bruttosozialprodukt Russlands, und es war auch Jelzin, der mit den blutigen und brutalen Tschetschenienkriegen 1995 und 1999 eine bis heute anhaltende unheilvolle Entwicklung in Gang setzte.

Im August 1994 hinterließ Jelzin in Berlin einen äußerst zwiespältigen Eindruck, als er, die letzten russischen Truppen verabschiedend, unversehens und ungelenk das Polizeiorchester dirigierte und lauthals ein Volkslied zum Besten gab.

Schwer herzkrank, zu Alkohol-Exzessen neigend und praktisch handlungsunfähig, übergab Jelzin Silvester 1999 die Amtsgeschäfte an Wladimir Putin. "Ein tragisches Schicksal", bilanzierte Intimfeind Gorbatschow knurrig, mit "großen Verdiensten und schweren Fehlern".

Igor Jakowenko, der Chef der russischen Journalisten-Union, sagte dagegen, Jelzin habe den Russen die Freiheit gegeben. "Doch heute sind die wilden, freien und berauschenden 1990er zu Ende gegangen."