Vor 650 Jahren traf ein verheerender Orkan die Nordseeküste. Die Grote Mandränke tötete tausende Menschen und verschlang Rungholt.

Hamburg. Der Strand von Kampen ist Geschichte. Das Meer hat ihn sich geholt mit den ersten beiden großen Stürmen dieses Jahres. Die hölzerne Strandtreppe führt ins Nichts, der Weg endet an einer Abbruchkante - und das aufgewühlte Meer nagt unaufhörlich am blanken Roten Kliff, Zentimeter für Zentimeter. Nun, wo der schützende Strand abgetragen ist, kann sich das Meer ungehindert ins Land fressen, der Geestkern erodiert, die Nordsee wandert gen Osten, wie in all den Jahrhunderten zuvor. Und unter das Tosen der Flut mischen sich die Zeilen aus Kindertagen.

Heute bin ich über Rungholt gefahren,

die Stadt ging unter vor fünfhundert Jahren.

Noch schlagen die Wellen da wild und empört

wie damals, als sie die Marschen

zerstört.

Das Gedicht "Trutz blanke Hans" ist das bekannteste des Holsteiner Dichters Detlev von Liliencron, es gehört zum Schulkanon und erzählt von einem regionalen Trauma - der "Groten Mandränke" von 16. Januar 1362. In jenen Sturmtagen versanken Dutzende Quadratkilometer im Wasser, diese Flut verwandelte Amrum, Sylt und Föhr in Inseln, ließ nur Halligen zurück, wo vorher Kulturland war, und verschlang die mutmaßlich größte Stadt an der Nordsee: Rungholt. Die Erinnerungen an die verheerende Flut haben sich tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt und blitzen in Sturmnächten wieder auf; Rungholt ist zum Mythos geworden wie Vineta oder Atlantis.

Dementsprechend hat die Geschichte Dichter und Denker fasziniert. Liliencron beschreibt die Stadt als

" reich und immer reicher,

kein Korn mehr faßt selbst der größte Speicher.

Wie zur Blütezeit im alten Rom

staut hier täglich der Menschenstrom ."

Während die Dichter fabulieren, streiten sich die Forscher über Größe und Geltung, Gestalt und Geografie der mittelalterlichen Hafenstadt. Tausende Menschen sollen hier dereinst gelebt haben - als Kiel 1500 und Hamburg 5000 Einwohner hatte.

Ein Rungholt-Experte, so berühmt wie umstritten, ist der Ethnologieprofessor und Buchautor Hans Peter Duerr. "Unsere Brunnenfunde weisen auf bis zu 4000 Einwohner hin", sagt er. "Rungholt war kein kleines Fischerdorf, sondern ein Flecken." Allein die Tatsache, dass hier eine Stiftskirche stand, sei ein wichtiges Indiz für die Größe. Zudem verweist Duerr auf viele Keramikfunde, der er im Watt gemacht hat. "Diese Keramiken stammen aus Spanien, Südfrankreich und Afrika und sind völlig untypisch für einen Fischerort", betont Duerr. Andere Experten setzen die Zahl der Rungholt-Einwohner niedriger an. Der pensionierte Landesarchäologe Hans-Joachim Kühn geht von 1000 bis 1500 Einwohnern aus, Forscher Andreas Busch von 1500 bis 2000, auch das sind beträchtliche Zahlen für das Spätmittelalter.

+++ Sturmflut 1962: Tote lagen vor seinem Fenster +++

+++ Nordseeküste: Schwere Sturmböen behindern Verkehr ++

Busch gilt als Wiederentdecker von Rungholt. Die ersten Funde machte der Landwirt und Heimatforscher von Nordstrand im Mai 1921. Damals fand er südwestlich der Hallig Südfall, in einem Priel zwischen Pellworm und Nordstrand, ein Stück Leder mit Nahtlöchern auf festem alten Kleiboden. Es folgten Tierknochen und schließlich drei Brunnen. Rungholt, bis dahin nur ein Mythos, wurde Realität. Auch weil Busch weitersuchte: Noch als Achtzigjähriger stieß er im Jahr 1963 auf ein Holzfass.

Buschs Entdeckungen sind in der Fachwelt unumstritten; wo er den sagenumwobenen Flecken vermutete, lokalisieren heute auch die Landesarchäologen aus Schleswig Rungholt. Doch die genaue Lage des Ortes im mittelalterlichen Verwaltungsbezirk Edomsharde ist umstritten. Duerr hält die Reste, die Busch fand, nur für eine Warftsiedlung von Salzsiedern. Er verortet den Hauptort weiter im Nordosten und verweist auf die Karte des Zeichners Johannes Mejer von 1652: "Abriss Von Rungholte Und Seinen Kirchspielen Anno 1240".

Genau diese Karte, deren Faksimile in einem Ferienhaus auf Nordstrand hing, weckte Duerrs Forscherehrgeiz. Er verglich die alte Karte mit einem Luftbild der Wattgegend - und stieß auf verblüffende Ähnlichkeiten. "Die Topografie hat sich wenig verändert. Für mich sprach viel dafür, dass Rungholt an dieser Stelle gelegen haben muss." Als ihm sein Vermieter später Funde aus dem Watt zeigte - Keramik, Schädel und Schmuck -, war Duerr wie elektrisiert. Rungholt lässt ihn nicht los - bis heute.

Die Reise in das Nordfriesland der Vergangenheit ist die Reise in ein anderes Land. Die Küste hatte noch im 14. Jahrhundert ein komplett anderes Gesicht. Große Dünenwälle bildeten eine Art Nehrung vor der Küste. Sie zogen sich vom heutigen Sylt im Norden hinunter bis Eiderstedt. Einzelne Geestinseln ragten aus großen Moorflächen heraus; schmale Priele, Gezeitenrinnen, durchzogen das sumpfige Marschland, das die Friesen einige Jahrhunderte zuvor besiedelt hatten.

Die Menschen lebten auf Warftgruppen und hatten um ihre Dörfer und Äcker zusätzliche Deiche errichtet. Die Siedler gewannen zwar neues Land, waren zugleich aber auch mitverantwortlich für den Untergang. Mit der Entwässerung und Kultivierung des Marschlandes veränderten sie nachhaltig ihren Lebensraum.

Wohlstand brachte den Friesen in Uthlande, wie das Außenland an der Küste heißt, der Torfabbau. Sie sammelten Torf im Watt und verbrannten ihn, um Salz zu gewinnen. In den weiter vom Meer entfernten Gegenden bauten sie ebenfalls Brenntorf ab. Das Land, das auf einem eiszeitlichen Schmelzwassertal lag, fiel unter den Meeresspiegel. Eindeichungen verschärften die Probleme, weil das eingedeichte Land absackte und das Wasser nicht mehr großflächig verlaufen konnte. Die Warften, mit Grassoden gesicherte Erdhügel, sollten auch gegen Winterstürme Schutz bieten und überragten die Deiche um rund einen Meter. Als in den Januartagen des Jahres 1362 ein Sturm heraufzog und die Fluten stiegen, dürften sich die Friesen noch sicher gefühlt haben. Die Deiche und Warften würden schon halten, alles werde gut gehen.

Doch nichts ging gut. In der Literatur ist von einem Extremwetterereignis die Rede. Während über den Azoren ein Hoch lag, zog von Grönland und Island ein Tiefdruckgebiet in die Nordsee. Zwischen diesen beiden Druckgebieten bildete sich ein Orkan, der tagelang anhielt, weil sich die Druckgebiete kaum bewegten. Ein Hochwasser nach dem anderen bedrängte das Land, bei Ebbe konnte das Wasser nicht abfließen, weil der Orkan aus Westen dagegegenblies. "Die passende Windrichtung zur passenden Zeit - das Wasser ist glatt über die Deiche gegangen, ein Extremereignis", beschreibt der Heimatforscher Albert Panten das Geschehen vom 15. bis 17. Januar 1632. Ulf Ickerodt vom Archäologischen Landesamt Schleswig-Holstein vergleicht das Ereignis mit den Bildern vom Tsunami. Nach späteren Berichten sollen die Deiche um vier Ellen überflutet worden sein - das wären immerhin 2,4 Meter über den Deichkronen.

Die Flut traf die Menschen zu einem denkbar unglücklichen Zeitpunkt. Die besten Jahre Rungholts, ja der ganzen Region waren schon vorbei. Zwölf Jahre zuvor hatte die Pest von Norden kommend auch die Uthlande heimgesucht. "Pest, Klimaveränderungen, Epidemien und Hungersnöte hatten die Menschen geschwächt - deshalb wurde der Deichbau vernachlässigt", sagt Duerr. Als die Deiche brachen, die immerhin zwei bis drei Meter hoch waren, sammelte sich das Wasser in dem tief liegenden Land. Die Tage des Januars verheerten die Uthlande; nach historischen Angaben kamen 7600 Menschen in der Küstenregion ums Leben. Insgesamt dürften bis zu 10 000 Tote zu beklagen gewesen sein. Aber das sind Schätzungen.

"Gesicherte Erkenntnisse gibt es nur über die zweite Mandränke", sagt der Archäologe Kühn. In dieser Flut vom 11. Oktober 1634 wurde die Insel Strand in die Bestandteile Nordstrand und Pellworm zerlegt. "Damals gab es 6000 Tote, zwei von drei Bewohnern starben." 1362 war die Gegend dünner besiedelt, die Verheerungen aber vermutlich noch schlimmer.

Eine Wiederbesiedelung scheiterte auch daran, dass die vielen Deichbrüche nicht schnell repariert werden konnten und die tiefer liegenden Flächen dauerhaft ein Opfer des Meeres wurden. "Kleinere Landreste hat es noch gegeben, zu Eindeichungen aber fehlte den Menschen die Kraft oder der Mut", sagt Kühn. Nach 1362 fällt die Zahl der Funde aus jener Zeit radikal ab, nur Torfabbau ist nachweisbar. Rungholt war versunken - doch was damals unterging, löst bis heute große Konflikte in der Forschung aus.

Ethnologe Duerr verweist auf spektakuläre Funde, die insgesamt 17 Forschungsreisen mit Bremer Studenten ans Tageslicht beförderten: In einem Priel fand er Schädel "in großer Zahl", er entdeckte die Reste eines Sarges und zahlreicher Keramikgefäße. Er stieß auf Reste eines frühmittelalterlichen Langhauses und einer Kirche aus Backstein und Tuffstein, "die so groß und so bedeutend gewesen sein dürfte wie die alte Kirche auf Pellworm". Ja, es fanden sich sogar minoische Relikte, die auf Kontakte zwischen den Minoern und Nordseegermanen um 1300 vor Christus verweisen.

Die Begeisterung beim Schleswiger Landesamt hielt sich in Grenzen - man warf Duerr Raubgrabungen und fehlende Konsultation der Fachwelt vor. Bis zum Amtsgericht tobte Duerrs Auseinandersetzung mit dem Landesamt, Strafandrohungen und Bußgeldbescheide folgten. Duerr bedauert diese "Erbfeindschaft" und vermutet dahinter Forscherneid: "Wenn ich Zahnarzt gewesen wäre, hätte es keine Probleme gegeben." Seine Kritiker hingegen zweifeln seine Forschung grundsätzlich an. "Seine besonderen Funde hat er mir nie gezeigt", ärgert sich der Archäologe Kühn. "Ich habe keine überzeugenden Belege bekommen."

Die Kritiker argwöhnen: Vor der Sturmflut von 1362 wird der Name Rungholt nur wenige Male urkundlich erwähnt - in den Büchern der Hanse taucht er nicht auf. So findet sich Rungholt als Adresse auf der Rückseite eines Testaments von 1345. Weitere Schriftstücke aus dem 13 und 14. Jahrhundert belegen den Handelsverkehr zwischen Flandern, Bremen, Hamburg und der Edomsharde, deren Hafen Rungholt gewesen sein muss. Zudem tauchte eine Handelsvereinbarung mit Hamburger Kaufleuten vom Mai 1361 auf, also wenige Monate vor der Mandränke. Für Duerr ist dieser Mangel indes kein Argument gegen die Größe Rungholts: "Die Verwaltungseinheit war die Edomsharde und eben nicht Rungholt. Aber Rungholt war der zentrale Ort."

Kühn ist da skeptischer: "Rungholt war ein Koog und kein zentraler Ort, eher eine eingedeichte Warftgruppe." Er glaubt auch nicht, dass in Sichtweite zur noch existierenden Kirche von Pellworm eine weiteres großes Gotteshaus gestanden hat. Trotzdem war der Ort bedeutend: "Rungholt war damals südlich von Alt-List der einzige Zugang zur freien See", sagt Kühn.

Die Antwort, wer recht hat, dürfte im Watt versunken sein. "Ich erwarte keine neuen Erkenntnisse", sagt der Ethnologe Duerr, der heute in Heidelberg lebt. "Seit 2004 ist das Watt völlig übersandet." Doch der Wandel im Watt ist es, der auch plötzlich neue Funde ans Tageslicht bringen kann.

Bis dahin wird die Legende weitergewoben, die zu berichten weiß, dass die Bürger Rungholts selbst die Schuld an dem Untergang ihrer Heimat trugen. Die Flut vor 650 Jahren galt als Gottesstrafe für die übermütigen und liederlichen Sünder von Rungholt: Sie hätten Gott gelästert, so heißt es.

Und rauschende,

schwarze, langmähnige Wogen

kommen wie rasende Rosse geflogen.

Trutz, blanke Hans.

Ein einziger Schrei -

die Stadt ist versunken,

und Hunderttausende sind ertrunken.

Wo gestern noch Lärm

und lustiger Tisch,

schwamm andern Tags

der stumme Fisch.

Heut bin ich über Rungholt gefahren,

die Stadt ging unter vor fünfhundert Jahren.

Trutz, blanke Hans?