Nienburg/Hannover. Fritz Haarmann tötete mindestens 24 Jungen und junge Männer in Norddeutschland. Wie viele genau? Das weiß niemand. Tatserie ist unvergessen.

Diese Mordserie war Grundstoff von Filmen, Theaterstücken, Büchern und zahlreichen Dokumentationen. Und sie beflügelt bis heute die Fantasie von Kriminalisten und True Crime-Anhängern: Im Mai 1924, vor 100 Jahren, machen Kinder in Hannover einen grausigen Fund. An der Leine entdecken sie einen Schädel, offenbar hat er schon lange im Fluss gelegen. Später werden weitere Schädel angeschwemmt. Nach einer gerichtsmedizinischen Untersuchung ist klar: Die Schädel stammen von Jungen und Männern zwischen 11 und 22 Jahren und wurden mit scharfen Instrumenten vom Rumpf abgetrennt. Die Polizei muss von einem grausamen Verbrechen ausgehen. Die mutmaßliche Mordserie hält schon bald die ganze Stadt in Atem. Ihr ganzes Ausmaß ist bis heute unbekannt.

Ins Visier der Ermittler gerät schnell der Altkleiderhändler Fritz Haarmann, 45 Jahre alt, vielfach vorbestraft und den Beamten bekannt als Kleinkrimineller und Polizeispitzel. Schon 1918 stand er im Verdacht, etwas mit dem Verschwinden zweier junger Männer zu tun gehabt zu haben. Als er am 22. Juni 1924 nach einem Streit mit einem Jugendlichen zufällig auf der Bahnhofswache erscheint, nehmen die Beamten ihn kurzerhand fest.

Haarmann ist einer der schlimmsten Serienmörder der deutschen Kriminalgeschichte

Die Ermittlungen zeigen: Haarmann ist einer der schlimmsten Serienmörder der deutschen Kriminalgeschichte. Mindestens zwei Dutzend Jungen und junge Männer soll er getötet haben. Er selbst spricht von bis zu 40 Taten. 27 kommen zur Anklage, und für 24 Morde wird Haarmann schließlich verurteilt. Archivrat Franz Hauner vom Niedersächsischen Landesarchiv in Hannover hält es für möglich, dass es noch weit mehr Opfer gab: „Es ist immer noch die Frage, wie viele junge Männer er wirklich auf dem Gewissen hat.“

Das mutmaßliche Tatwerkzeug des Massenmörders Fritz Haarmann.
Das mutmaßliche Tatwerkzeug des Massenmörders Fritz Haarmann. © dpa | Sina Schuldt

Haarmann spricht seine Opfer in der Gegend um den Hauptbahnhof an - Hannover ist wegen seiner zentralen Lage zu jener Zeit eine Drehscheibe für Ausreißer, Arbeitslose, Obdachlose, Schieber, Strichjungen und Prostituierte. Mit dem Versprechen auf ein Bett für die Nacht und etwas zu essen lockt er Gestrandete in seine Dachkammer in den engen Gassen der damaligen Altstadt, einem Armuts- und Rotlichtviertel. Als Gegenleistung verlangt der jovial auftretende Händler häufig sexuelle Dienste.

Archivrat spricht von „Mordlust mit sexueller Komponente“

In der Nacht fällt er dann über die Gäste her, vergewaltigt und erwürgt sie brutal, wie er im Verhör zugibt. Archivrat Hauner spricht von „Mordlust mit sexueller Komponente“.

Danach zerstückelt er die toten Körper, um Spuren zu beseitigen. Die Leichenteile versenkt er in Teichen oder im Fluss Leine, die an seinem Zimmer vorbeifließt. Andere Teile verbrennt er oder vergräbt sie im Wald, in Gärten oder Parks. Die Kleider seiner Opfer verkauft er.

Die Lichtbildmappe in der Mordsache Fritz Haarmann wird im Polizeimuseum Niedersachsen gezeigt.
Die Lichtbildmappe in der Mordsache Fritz Haarmann wird im Polizeimuseum Niedersachsen gezeigt. © dpa | Sina Schuldt

Viel wird darüber spekuliert, ob Haarmann auch menschliches Fleisch zu Wurst verarbeitet oder gar selbst verspeist hat. Er selbst hat es bestritten. Der Heimatforscher und Buchautor Matthias Blazek hält es trotzdem für plausibel, da Haarmann auch Fleischkonserven verkaufte. „Die Vermutung liegt nahe, dass er damit manchmal Geld gemacht hat.“ Viele Hannoveraner mögen jedenfalls noch Monate nach der Festnahme keine Wurst mehr essen.

Fotos zum Fall des Massenmörders Fritz Haarmann werden im Polizeimuseum Niedersachsen gezeigt.
Fotos zum Fall des Massenmörders Fritz Haarmann werden im Polizeimuseum Niedersachsen gezeigt. © dpa | Sina Schuldt

In den Städten der Weimarer Republik gehen zu jeder Zeit mehrere Serienmörder um, in Berlin oder Düsseldorf, erläutert Blazek. Aber keiner zieht ein so großes öffentliches Interesse auf sich wie Haarmann. Sein Fall erzeugt in ganz Deutschland einen riesigen Presserummel, und auch im Ausland verfolgen Zeitungsleser die Berichte über den „Werwolf“ von Hannover.

„Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt Haarmann auch zu dir“

Und schon bald macht sich der Volksmund seinen eigenen Reim darauf. Nach einer Operettenmelodie von Walter Kollo entsteht das makabre Haarmann-Lied: „Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt Haarmann auch zu dir. Mit dem kleinen Hackebeilchen macht er Schabefleisch aus dir.“

Kunst und Kultur saugen den Fall ebenfalls begierig auf. Bücher, Lieder oder Filme erzählen immer wieder seine Geschichte. 1992 gießt der Wiener Bildhauer Alfred Hrdlicka eine umstrittene Bronzeplastik zu dem Fall, das sogenannte Haarmann-Fries. 1995 schlüpft Götz George für den mehrfach prämierten Spielfilm „Der Totmacher“ in die Rolle des Altkleiderhändlers. Bis heute gibt es Lesungen, Theaterstücke oder „Mördertouren“ auf Haarmanns Spuren.

An der Leine fanden Kinder einst Knochen. Dadurch wurde die Mordserie von Fritz Haarmann erstmals ruchbar.
An der Leine fanden Kinder einst Knochen. Dadurch wurde die Mordserie von Fritz Haarmann erstmals ruchbar. © dpa-tmn | Wolfgang Stelljes

Sie führen in eine Zeit von Hunger, Inflation und Wohnungsnot. „In sozial schwächeren Gegenden war es ganz normal, Bettstellen für einzelne Nächte an Herumstromer zu vermieten“, erläutert Archivrat Hauner. Das macht sich Haarmann zunutze, der schon als Jugendlicher sexuellen Missbrauch an Nachbarskindern beging und als Kind vermutlich von seinem älteren Bruder selbst missbraucht wurde. 1923 und 1924 mordet er jeden Monat, manchmal jede Woche. Doch die Polizei schaut lange nicht so genau hin. Vielleicht will sie Haarmann als Spitzel nicht verlieren. Auch die Nachbarn blicken weg.

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Nach der Festnahme streitet Haarmann zunächst alles ab. Erst als die Ermittler den Druck erhöhen, legt er ein Geständnis ab. Die Polizei lässt den Pegel der Leine absenken: Zum Vorschein kommen mehrere Hundert Knochenstücke, die 22 von insgesamt etwa 100 vermissten Jungen zugeordnet werden können. Im Dezember 1924 verurteilt das Landgericht Hannover den Serienmörder zum Tode. Am Morgen des 15. April 1925 wird er mit dem Fallbeil hingerichtet. epd