Hamburg. Der Marathonläufer erklärt die Probleme mit der Qualifikation für Tokio – und warum er eine Verlegung der Spiele für nötig hält.

Er wollte am vergangenen Wochenende in Dresden sein letztes Rennen vor dem abgesagten Marathon in Hamburg (19. April) bestreiten. Stattdessen versuchte sich Philipp Pflieger, Neuzugang des Laufteams Haspa Marathon Hamburg, in seiner Heimat Regensburg mit den Folgen des weltweiten Ausbruchs des Coronavirus zu befassen. „Die Lage ist surreal“, sagt der 32-Jährige, der im Abendblatt-Interview schildert, warum er an eine Verlegung der Olympischen Sommerspiele in Tokio (24. Juli bis 9. August) glaubt und was er nun vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) und dem Leichtathletik-Weltverband erwartet.

Hamburger Abendblatt: Herr Pflieger, am Freitag sind Sie aus dem Kenia-Trainingslager zurückgekehrt, wo Sie sich darauf vorbereitet haben, in Hamburg die Olympianorm für Tokio anzugreifen. Wie war der Moment, in dem Sie erfuhren, dass das ganze Training wohl umsonst war?

Philipp Pflieger: Ich hoffe noch immer, dass es nicht umsonst war. Aber natürlich waren die vergangenen Tage verrückt. Frank Thaleiser, der Exekutivdirektor der Marathon Hamburg Veranstaltungs GmbH, hatte mich vor rund 14 Tagen schon kontaktiert und angedeutet, dass es zu einer Absage des Rennens kommen könnte. Aber da dachte ich noch, wie wahrscheinlich sehr viele Menschen in Deutschland, dass das Ganze etwas aufgebauscht wird und schon alles irgendwie gut gehen wird.

Das ist nun völlig anders. Fast alle Frühjahrsmarathons sind abgesagt. Was bedeutet das für diejenigen Athletinnen und Athleten, die noch keine Olympianorm haben?

Pflieger: Das fragen wir uns alle. Im Marathon ist es so, dass man nur zwei, maximal drei Chancen hat, im festgelegten Qualifikationszeitraum die Norm zu laufen, die für Tokio bei 2:11:30 Stunden liegt. Meine erste war in Berlin im Herbst 2019, da musste ich verletzt aufgeben. Nun hatte ich Hamburg als zweite und letzte Chance geplant. Das fällt weg. Auf andere Events auszuweichen ist auch nicht möglich, da die auch alle ausfallen.

Setzen Sie denn Ihr Training ganz normal fort? Die Vorbereitung auf einen Marathon ist ja so getaktet, dass man sich über drei bis vier Monate in Form bringt, um zu einem festgelegten Zeitpunkt die geforderte Leistung zu erbringen. Sie können ja nicht ein halbes Jahr ohne festes Ziel voll trainieren.

Pflieger: Das ist das Problem. Ich habe mich entschieden, meinem Trainer Renato Canova vorzuschlagen, dass wir erst einmal weiter darauf hintrainieren, dass ich Ende April, Anfang Mai ein Rennen bestreiten könnte. In der Hoffnung, dass bis dahin eine Lösung gefunden worden ist.

Wie könnte die aussehen? Frank Thaleiser sagte, es gab bereits Überlegungen, ein Ersatzrennen nur für Eliteläufer anzubieten, damit die die Norm erfüllen können.

Coronavirus: So können Sie sich vor Ansteckung schützen

  • Niesen oder husten Sie am besten in ein Einwegtaschentuch, das Sie danach wegwerfen. Ist keins griffbereit, halten Sie die Armbeuge vor Mund und Nase. Danach: Händewaschen
  • Regelmäßig und gründlich die Hände mit Seife waschen
  • Das Gesicht nicht mit den Händen berühren, weil die Erreger des Coronavirus über die Schleimhäute von Mund, Nase oder Augen in den Körper eindringen und eine Infektion auslösen können
  • Ein bis zwei Meter Abstand zu Menschen halten, die Infektionssymptome zeigen
  • Schutzmasken und Desinfektionsmittel sind überflüssig – sie können sogar umgekehrt zu Nachlässigkeit in wichtigeren Bereichen führen

Pflieger: Das wäre sicherlich die beste Lösung, dass man an einem Wochenende Ende April oder Anfang Mai in einer Stadt eine vom Weltverband zugelassene und vermessene Runde absperrt, auf der alle, die noch keine Norm haben, eine Chance bekommen, sie zu laufen. Ohne Zuschauer, ohne Hobbyläufer, so wie es in Tokio vor ein paar Wochen war, als die Japaner ihre Olympiaqualifikation gelaufen sind. Aber das muss frühzeitig kommuniziert werden, und da sehe ich den Weltverband in der Pflicht, so etwas anzuschieben. Bislang kommt da gar nichts.

Fühlen Sie sich vom Weltverband und IOC ausreichend unterstützt und informiert?

Pflieger: Überhaupt nicht. Das Kommunikationsmanagement des IOC ist hanebüchen. Wir haben eine nichtssagende E-Mail bekommen, in der schwammig formuliert ist, dass man sich für die Qualifikationsmöglichkeiten eine Lösung überlegen wird und dass wir uns keine Sorgen machen sollen. Aber was konkret angedacht ist, weiß niemand. Transparenz wäre wichtig, sie könnte Sorgen nehmen. Aber es werden keine Lösungswege aufgezeigt. Man darf ja nicht vergessen, dass allen Sportlern, die keine Wettkämpfe bestreiten, Verdienstmöglichkeiten wegfallen, die Kosten für Trainingslager aber weiter anfallen. So werden Sportler in der Luft hängen gelassen und müssen selbst entscheiden, ob sie weiter trainieren sollen oder nicht. Außerdem wird vonseiten des IOC noch immer so getan, als sei eine Absage der Sommerspiele überhaupt kein Thema.

Glauben Sie nicht mehr daran, dass die Spiele wie geplant stattfinden?

Pflieger: Noch vor fünf Tagen hätte ich gesagt: Wenn etwas in Stein gemeißelt ist im Sport, dann die Olympischen Spiele. Jetzt bin ich da überhaupt nicht mehr sicher, im Gegenteil: Ich glaube, dass die Spiele verschoben werden müssen. Es gibt ja nicht nur die Probleme mit der Qualifikation, die sich in allen Sportarten ergeben. Dafür könnten das IOC und die Dachverbände ja kreative und kulante Lösungen finden. Aber die gesamte Logistik, die vor Ort notwendig ist, muss von Ende April an bereits aufgebaut werden. Da wird die Zeit knapp. Außerdem glaube ich, dass es hinsichtlich der Ausbreitung eines Virus das Dümmste wäre, 10.500 Athleten und deren Betreuerteams aus aller Welt in einem Olympischen Dorf zusammenzubringen und die alle danach wieder in alle Welt reisen zu lassen. Ich glaube zwar nicht an eine Absage, aber ich denke, dass eine Verlegung um ein oder sogar zwei Jahre nötig wird.

Eine Verlegung oder Absage der Spiele hätte unermesslich weit reichende Konsequenzen. Welche wären das für Sie persönlich?

Pflieger: Eine Verlegung wäre eine Enttäuschung. Aber für mich würde sich an meinem Ziel, es nach Rio 2016 zum zweiten Mal zu Olympia zu schaffen, nichts verändern. Vielleicht wäre ich in zwei Jahren sogar ein noch besserer Athlet. Aber natürlich weiß ich, dass es viele Sportler gibt, die ihre Karriere nach Tokio beenden wollten. Für die könnte eine Verschiebung einen Lebenstraum zerstören. Vor allem würde eine Verschiebung die Wettkampfkalender durcheinanderbringen, man müsste die bereits erfolgten Qualifikationen wohl wiederholen. Aber das alles muss zurückstehen, wenn es um die Gesundheit der Welt geht.

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Was auffällt, wenn man mit Sportlern über die Krise spricht: Alle machen sich deutlich mehr Sorgen über die Folgen für ihren Beruf und die Wirtschaft als darüber, an Corona zu erkranken. Geht Ihnen das auch so?

Pflieger: Absolut. Ich habe überhaupt keine Angst vor einer Ansteckung. Das soll nicht de­spektierlich klingen, aber ich zähle als Leistungssportler, der kerngesund und 32 Jahre alt ist, nicht zur Risikogruppe. Leistungssportler haben generell eine andere Einstellung zu Gesundheit als die normale Bevölkerung. Sie ist zwar unser Kapital, aber wir muten unseren Körpern täglich so viel zu, dass es belastend wäre, sich zu viele Sorgen darüber zu machen. Ich behaupte: Kaum ein Athlet würde aus Sorge, sich mit Corona zu infizieren, ein Qualifikationsrennen absagen oder gar nicht nach Tokio fliegen. Aber ich erkenne natürlich an, dass die Vorkehrungen, die jetzt getroffen werden mussten, aus Sicht des Allgemeinwohls der Gesellschaft angemessen sind.

Spüren Sie innerhalb der Sportszene aktuell eher Fatalismus und Enttäuschung oder Solidarität und Optimismus?

Pflieger: Aktuell herrscht eine Art Schockstarre. Es drückt auf die Motivation, nicht zu wissen, wofür man überhaupt noch trainiert. Deshalb wäre es auch so wichtig, dass die Verbände und das IOC Lösungswege aufzeigen. Solidarität ist aber trotzdem da, wir tauschen uns aus, halten einander­ auf dem Laufenden, wo es noch Wettkämpfe gibt. Dieses Gefühl, dass wir durch diese Krise alle nur gemeinsam kommen, ist auch im Sport sehr ausgeprägt. Und das macht mir Hoffnung.