Als 13-Jähriger gewann Michael Bölker den Intelligenztest “Aktion 18“ des Abendblatts. Dann brach er mit allen Konventionen.

Hamburg. Am Ende waren nur noch elf Kandidaten übrig, alle mussten sich in Einzelgesprächen der Jury stellen. Auch Michael Bölker saß im November vor den Hamburger Wissenschaftlern, als ein Logiker eine Zigarette hervorkramte, sie dem Jungen unter die Nase hielt und fragte: "Was sehen Sie?" Bölker überlegte kurz, dann sagte er: "Ich sehe einen Zylinder mit einem Durchschnitt von ungefähr sechs Millimetern, von dem ich annehme, dass er eine Zigarette ist." Selbst für einen Erwachsenen wäre das eine erstaunliche Antwort gewesen. Aber weil der merkwürdig präzise Satz einem 13-Jährigen entsprang, machte er besonderen Eindruck.

Noch heute, 41 Jahre später, erinnert sich Michael Bölker an diese Frage. Womöglich, weil seine Antwort mitentscheidend dafür war, dass er 1970 zum klügsten Hamburger Jugendlichen gekürt wurde. "Ich war damals naiv, aber irgendwie wusste ich, dass ich jetzt nicht sagen kann: Das ist eine Zigarette", sagt Bölker heute. Das wäre zu einfach gewesen, zumal ihn der vorangegangene achtwöchige Testmarathon gelehrt hatte, konzentriert zu sein, nicht die erstbeste Antwort zu geben.

+++ Lesen Sie hier den Abendblatt-Artikel vom 28. November 1970 +++

3000 Jugendliche hatten sich damals zum bis dato größten Intelligenztest Hamburgs angemeldet. "Aktion 18" hieß der Aufruf des Abendblatts, bei dem eine Expertenrunde die Jugend von damals auf Logik, soziale Kompetenz, Interessenhorizont und körperliche Parameter testete. Vornehmlich Oberstufenschüler ließen sich testen, befragen und vermessen. Dass am Ende ausgerechnet der 13-jährige Blondschopf aus Altona gegen die durchweg ältere Konkurrenz das Rennen machte, war eine mittelschwere Überraschung. Michael Bölker, urteilte die Jury, war ein "heller und cleverer Bursche", der originelle Zugänge zu den Fragestellungen fand. Ihm wurde eine große Zukunft prophezeit.

Heute ist sein üppiges Haupthaar einer Denkerstirn gewichen. Wenn der 54-Jährige redet, wirkt er überlegt. Er lebt jetzt im hessischen Marburg, ist mit Dr. Christiane Lehmler verheiratet und Vater von fünf Kindern. Während der Kinderreichtum nicht unbedingt zu erwarten war, erfüllte er die in sein geistiges Potenzial gesetzten Erwartungen ziemlich eindeutig. Er lehrt als Professor für Molekulare Genetik an der Philipps-Universität. Aber auf dem Weg dorthin lief nicht alles glatt.

Zunächst legte der klügste Hamburger Jugendliche jedoch ein Leben auf der Überholspur hin. Schon mit 16 machte er sein Abitur am Christianeum in Othmarschen mit der Traumnote 1,0. Kurz danach begann er ein Studium der Biochemie in Tübingen. "Weil ich nicht - wie alle anderen - Medizin studieren und in Hamburg bleiben wollte", sagt Bölker. Zusätzlich belegte er Philosophie - umfassend interessiert war er ja -, und er schlug sich wacker. Später wechselte er an die Freie Universität in Berlin, "weil dort die Lehre sinnvoll mit dem Max-Planck-Institut verzahnt war. Das gefiel mir." 1981 sollte der nunmehr 24-Jährige sein Diplom verteidigen, auch eine Forschungsreise in die USA war geplant. Doch dann brach Michael Bölker aus - und wurde Hausbesetzer.

"Vielleicht war es die Angst vor der eigenen Karriere", sagt er. Zumindest verfehlte der Einfluss studentischer Kreise im Berlin der frühen 80er-Jahre seine Wirkung nicht. Der Junge, der auf Fotos etwas Engelhaftes hatte, begehrte plötzlich gegen die Wohnungspolitik der damals geteilten Stadt auf. "Wobei mein Protest nicht politisch begründet war, sondern ideell."

Er schmiss jedenfalls sein Studium und zog mit Gleichgesinnten in eine zum Abriss vorgesehene Häuserzeile am Winterfeldtplatz. "Dort lernte ich, wie man Wände selbst verputzt. Wie eine Gemeinschaft funktioniert. Das war eine lehrreiche Zeit."

Der klügste Hamburger, dem eine akademische Karriere sperrangelweit offenstand, war aus der konventionellen Bahn geraten. "Was mit Abstand betrachtet amüsant ist. Schließlich war die durchaus kritisch beäugte 'Aktion 18' auch ein Versuch, das Credo der 68er-Jugend zu widerlegen", sagt er. Der Intelligenztest sollte zeigen, dass gewillte, kluge Jugendliche aufwachsen. Nicht nur aufständische. Und nun war ausgerechnet der Sieger dieses Experiments zum Hausbesetzer geworden, schloss sich jener Bewegung an, der er nachweislich nicht angehören sollte. Das entbehrte nicht einer gewissen Ironie.

Bölker sagt, für ihn sei dieser Ausbruch, dieser Umweg nötig gewesen. "Es war wohltuend, den stringenten Lauf zu unterbrechen." Das verschulte System wenigstens einmal zu verlassen. Er habe in einem Reisebüro gearbeitet und Karten für die Deutsche Bahn verkauft. "Das waren nicht sonderlich geistvolle Tätigkeiten. Aber auch dabei habe ich stets Strategien entwickelt", sagt er. Kopfarbeit. Nur anders. Sporadisch besuchte er weiterhin Philosophie-Veranstaltungen an der Universität. Und vielleicht hätte er ohne diese Episode nie erfahren, wie sich solide Arbeit anfühlt - und wie glücklich sie machen kann. Bereut habe er die Zeit jedenfalls nicht. Im Gegenteil: Sie habe seinen Blick geweitet. Außerdem wurden die besetzten Häuser saniert und gehören heute zum schönsten Teil Schönebergs. Ein gewisser Erfolg lasse sich da nicht absprechen. Praktischerweise entstammt auch sein Lebensmotto, ein Bahn-Slogan, dieser Zeit: "Umwege in Richtung Ziel sind erlaubt".

Insgesamt dauerte der Haken, den sein Leben schlug, sechs Jahre. Jahre, in denen er seine akademischen Ideale nicht abstreifte. "Bevor ich mein Studium habe ruhen lassen, störte mich vor allem der Verkauf der Forschung." Er habe einen hohen Anspruch an die Wissenschaft gehabt, keinen kommerziellen. "Aber leider war das damals nicht die Realität. Ich war frustriert, weil eben nicht immer die besten, klügsten oder interessantesten Menschen Karriere in der Forschung und übrigens auch in anderen Lebensbereichen machen, sondern oft die Verkäufer." Das lag dem feingeistigen Bölker nicht.

Erst 1987 zog es ihn wieder an die Universität in Berlin. Er nahm sein Studium wieder auf, machte im selben Jahr sein Diplom und verfolgte seine Karriere fortan zielstrebig. Er zündete den akademischen Nachbrenner, promovierte 1991 und spezialisierte sich auf dem Gebiet der Molekularen Genetik: "Ich habe mir gedacht, wenn ich jetzt noch einmal anfange, dann will ich auch erfolgreich sein." Bölker folgte seiner Doktormutter nach München, lernte dort seine Frau Christiane kennen und wurde 1997 zum Professor der Philipps-Universität Marburg berufen. Er schätzt Heidegger, beschäftigt sich mit synthetischen Genen und der Ethik seiner Fachrichtung. Und vielleicht ist es Koketterie, wenn er sagt: "Ich bin schon nicht schlecht in dem, was ich mache."

Nach Hamburg zurück, das wäre zwar toll gewesen. "Aber in meinem Feld ist nur wenigen vergönnt, dort zu arbeiten, wo sie wollen." In Marburg habe er sich eingerichtet, die mittelgroße Stadt biete andere Vorteile. Gerade für die Familie. "Man kann die Kinder allein zur Schule gehen lassen. Alles ist etwas übersichtlicher." Und die historische Altstadt, das Schloss und die Studentenszene seien durchaus reizvoll.

Heute gelten Umwege in edelstahlgebürsteten Karrieristenlebensläufen als Ausnahme. Aber das Beispiel des Freigeistes Michael Bölker zeigt: Hinderlich sind sie nicht, wenn man die richtigen Schlüsse aus ihnen zieht.

Heute verläuft sein Leben in geregelten Bahnen. Oder, wie er es ausdrückt: "Mit zunehmender Dauer wird das Leben erstaunlich viel Pflicht." Die Lehre an der Uni spanne ihn komplett ein, Elisabeth, Emilie, Eva Margarete, Anselm und Anna-Caroline - seine fünf Kinder - hielten ihn zusätzlich auf Trab, weshalb der genießerische Umweg nicht mehr drin sei.

Geraucht hat Michael Bölker übrigens nie. Die Zigarette, die ihm als 13-Jährigem unter die Nase gehalten wurde, war seine erste und letzte.