Das aufregendste Nichts der Welt wird 60 Jahre alt

Ganz schön frisch sieht er aus für sein Alter. Er ist immer noch gut in Form, Falten kennt er nicht, viele finden ihn sogar zu leicht. Und jetzt wird der Kleine 60: der Bikini.

Was wäre der Bikini ohne seinen Inhalt: die schönen Frauen, die ihn trugen. Der erste Zweiteiler, an den ich mich erinnere, war 1966 jener Fetzen aus Fell, den Raquel Welch für den grausamen Filmschinken "Eine Million Jahre vor unserer Zeit" um ihren Luxuskörper wickelte.

Die Mutter aller Filmbikinis hatte mir vier Jahre zuvor noch die freiwillige Selbstkontrolle (ab 12!) vorenthalten: 1962 war Ursula Andress als James-Bond-Gespielin in "Dr. No" im weißen Zweiteiler wie Aphrodite, die Schaumgeborene, den Fluten entstiegen. "Ein hübsches Nichts, das Sie da beinahe anhaben", definierte Sean (Bond) Connery. Das Nichts ging kürzlich bei einer Auktion in London für 40 000 Pfund (60 000 Euro) weg.

Auch die anderen berühmten Bikiniträgerinnen jener Zeit, Brigitte Bardot, Marilyn Monroe oder Jayne Mansfield, empfand meine Generation nicht nur wegen ihrer bedrohlichen Oberweiten irgendwie als unerreichbar exotisch. Der Bikini gehörte damals Stars und Sternchen, die dringend Schlagzeilen brauchten und dafür auch Tabus brachen.

Heute ist er Alltagsgut. Aus jeder Illustrierten springen uns Bikinimädchen im Dutzend entgegen, eine Sportart wie Beachvolleyball machte den knappen Zweiteiler zur Pflichtkleidung - Männer müssen dort (zum Glück) nur schlabbrige Shirts und weite Hosen tragen. Und selbstverständlich wird der Bikini zur WM in Form eines schwarzweißen Ballnetzes angeboten.

Angeblich sehen 69 Prozent der Deutschen Frauen am Strand lieber im Bikini, 23 Prozent wollen den Einteiler, vier Prozent hätten's gern "oben ohne" - vermutlich eine Umfrage unter Männern. Was die Frau über das intime Kleidungsstück denkt, besonders an anderen Körpern, ist ein Geheimnis. Männer sind da schlichter gestrickt, folgen ihren uralten Reflexen - und starren auf das kleine Stück Stoff, im wahrsten Sinne des Wortes ein Objekt der Begierde. "Ein Bikini ist wie ein Stacheldrahtzaun", fand US-Komiker Joey Adams. "Er schützt das Gelände, ohne den Blick einzuschränken."

Der Mann braucht im Angesicht einer Bikinischönheit nur den Bauch einzuziehen. Aber die Frau? Von wegen Befreiung! Sobald die Tage länger werden und Frauenzeitschriften die Badetrends des nächsten Sommers vorstellen, beginnt der Leistungssport: Eßverzicht, Kasteien mit Diäten, weiträumiges Umlaufen jeglicher Spiegel, Zwang zur gleichmäßigen Bräune im Solarium. Denn der Bikini entblößt erbarmungslos jede Schwachstelle. Wer ein Nichts anzieht, kann auch nichts mehr verstecken.

Der Einkauf von Badekleidung zählt zu den unangenehmsten Dingen im Leben einer Frau. Eine Umfrage hat ergeben, daß jede zweite lieber zum Zahnarzt gehen würde als sich der Qual auszusetzen, im geisterhaften Licht der engen Umkleidekabine einen Bikini anzuprobieren.

Wer hat ihn erfunden? Natürlich ein Mann. Der Franzose Louis Reard war weder Designer noch Schneider - er war Maschinenbauingenieur. Er wollte nur nachempfinden, was er an den Stränden in St. Tropez beobachtet hatte: sonnenbadende Frauen, die ihre Badeanzüge herunternestelten, um der Sonne mehr Haut anzubieten. Sein Ziel: "Kleiner als der kleinste Badeanzug der Welt." Sein Hintergedanke: "Man(n) will das Seidenband abmachen, die Schachtel öffnen und sehen, was drin ist."

Am 5. Juli 1946 präsentierte Reard im Pariser Freibad "Molitor" sein minimalistisches Kunstwerk: "le Bikini". Micheline Bernardini, eine Revuetänzerin, führte den Zweiteiler aus Fallschirmseide vor. Beobachter staunten und fühlten sich "auf einen anderen Planeten versetzt". Dabei war der Bikini eigentlich gar nicht so neu. 3600 Jahre alte Wandmalereien der Minoer bildeten Frauen im Zweiteiler ab, ein sizilianisches Mosaik aus dem 4. Jahrhundert nach Christus zeigt leicht bekleidete Damen bei Leibesübungen - wie ein Werbefoto aus dem Fitness-Studio. In den 30er Jahren tauchte die winzige Badetracht schon in Hollywood- Filmen auf.

Der erste Bikini rief im damals prüden Europa eine größere moralische Entrüstung hervor als die Atombombenversuche auf dem gleichnamigen Atoll. Die Kirchen warnten vor dem Verfall der Sitten, Politiker hoben den Zeigefinger. Trendsetter wie die "Vogue" ignorierten das gewagte Kleidungsstück einfach. In einem amerikanischen Magazin hieß es: "Man sollte kaum Worte darüber verschwenden. Keine Frau mit Anstand und Würde wird jemals so ein Ding anziehen." Der Vatikan ließ den Bikini von den Mittelmeerstränden verbannen. 1965 mußte eine Münchner Schülerin sechs Tage im Altersheim putzen, weil sie im Bikini über den Viktualienmarkt spaziert war. In Passau waren Zweiteiler noch 1968 in der Öffentlichkeit verboten. Kein Wunder, daß Brian Hyland 1960 in seinem Popsong "Itsy bitsy teenie weenie yellow polka-dot bikini" (ins Deutsche übersetzt als ". . . Honolulu-Strandbikini") ein Mädchen besang, das sich mit seinem neuen Bikini nicht aus der Umkleidekabine traute.

So knapp kann heutzutage kein Bikini mehr sein, als daß er noch einen Skandal auslösen würde - allenfalls das Wechseln desselben, wenn man die Kehrseite der Dame präsentiert, wie es die "Sun" mit Kanzlerin Merkel tat. Kleiner ging's nimmer, als Karl Lagerfeld 1995 für Chanel einen Bikini entwarf, der gerade mal die Brustwarzen bedeckte ("Nipple-Protector").

Seither ist alles erlaubt: rund oder dreieckig, weit oder knapp, gerüscht oder bestickt, mit Schnallen, Ringen oder Bändchen, das Material aus Frottee, Wolle, Metall, Lebensmitteln oder Kokosnußschalen. Der Inhalt wird gepuscht, gequetscht oder den Gesetzen der Schwerkraft ausgesetzt. Als einzige Faustregel gilt: je weniger Stoff, desto teurer.

Die Grenzen setzt allein die Natur. Jede Frau kann einen Bikini tragen, aber sollte sie es auch? Knallenger Stoff auf üppig hervorquellenden Rundungen ist allein eine Frage des Geschmacks. Nord- und Südamerikanerinnen sind da schon einen Schritt weiter: Wem der Bikini nicht paßt, der läßt sich operieren, bis er perfekt sitzt.

Und was sagt der Mann? Er schweigt. Und genießt. Und denkt über den weisen Karl Wilhelm Friedrich von Schlegel nach: "Mysterien sind weiblich. Sie verhüllen sich gern, aber sie wollen doch gesehen und erraten sein."