Sixtinische Kapelle: Wo die Kardinäle den neuen Papst wählen, schufen Michelangelo und andere Maler die größten Kunstwerke der Christenheit.

Hamburg. Am Anfang wollte er gar nicht. Der Bildhauer und Maler Michelangelo (1475-1564) hatte andere Projekte im Kopf und nur wenig Lust, das Deckengewölbe des Sixtinischen Kapelle zu bemalen. Doch die große künstlerische Freiheit, die ihm Papst Julius II. (1503-1513) zugestand, und ein Jahreslohn, der heutigen 60 000 Euro entsprochen haben soll, überzeugten den Florentiner, der daraufhin eines der größten Kunstwerke der Christenheit erschaffen sollte. Der Name der Kapelle geht auf den Papst Sixtus IV. (1471-1484) zurück, der das Gebäude ab 1473 errichten ließ. Das wehrhafte Bollwerk mit Mauern von drei Meter Dicke sollte das Volk fernhalten und war in den Außenmaßen entworfen worden, die die Bibel für den Tempel Salomons in Jerusalem vorsah (40 x 13 Meter). Von Anfang an fand dort das Konklave der Kardinäle statt.

Die Seitenwände waren bereits bemalt, als der 33jährige Michelangelo 1508 den Auftrag für die Bemalung der Decke erhielt, durch die sich ein riesiger Riß zog. Er ließ ein Baugerüst errichten, auf dem er in vier kräftezehrenden Jahren mal stehend, mal liegend auf den frischen, feuchten Putz ("al fresco") malte. Der Rücken schmerzte unerträglich, halb blind wurde er dabei, weil ihm ständig Farbe ins Gesicht tropfte. Doch unter seiner Hand entstanden gewaltige Bilder von der Schöpfungsgeschichte, der Vertreibung aus dem Paradies bis zur Trunkenheit Noahs. Es ist eine Flut aus Formen, Farben und Gestalten, die den Betrachter der 20 Meter hohen Decke zunächst scheinbar erschlagen, bis sich allmählich einzelne Gestalten herausschälen.

Wie die des androgynen Gottvaters mit seinem grauen Rauschebart, der zärtlich die Hand zu Adam ausstreckt, ihn fast berührt. Es ist das Symbol dafür, daß Gott sein Ebenbild erschuf - und es ist das wohl am häufigsten reproduzierte Bild der Sixitinischen Kapelle. Erfreulich für die weiblichen Besucher sind auch die kraftstrotzenden, muskelbepackten Männer, die als Engel zwischen den Hauptmotiven auftreten. Michelangelo, der nie verheiratet war, umgab sich gerne mit jungen Männern und konnte sich wohl auch bei der Darstellung weiblicher Helden nicht zu weichen Formen überwinden. So erinnert die Kumäische Sybille, eine Wahrsagerin der antiken Mythologie, mit ihrem Atlas-Körper an eine der hormongetränkten Kugelstoßerinnen der neuzeitlichen Olympischen Spiele.

Michelangelos Eva neigt ihr Haupt zu Adams Schoß, Gott entblößt sein Hinterteil, und zwei Knaben machen obszöne Gesten - der Künstler hat in seinem gigantischen Deckenfresko die lebendigen, emanzipierten Menschen der Renaissance verewigt, die ständig auf der Suche nach Glück und Erfüllung waren.

Wie anders erscheinen dagegen die Figuren des "Jüngsten Gerichts", zu dessen Erschaffung Michelangelo zwei Jahrzehnte nach seinem Deckenfresko gedrängt wurde. Diesmal köderte Papst Paul III. (1534-1549) den widerwilligen 60jährigen nicht nur mit Geld, sondern auch mit dem Titel "Oberster Baumeister, Maler und Bildhauer des Vatikans". An der Stirnseite der Kapelle malte Michelangelo fast 400 Figuren, die sich um einen zornigen Jesus drängen - Maria, Heilige und Märtyrer. Darunter der Heilige Bartholomäus, auf dessen abgezogener Haut Michelangelo sein schmerzverzerrtes Selbstporträt hinterließ. Ein Hinweis auf seine zunehmend hadernde Frömmigkeit.

Dennoch war es ihm wichtig, die Menschen so zu zeichnen, wie Gott sie schuf: nackt - sehr zum Entsetzen manch prüder Zeitgenossen. Ein bekannter Künstler, Pietro Aretino, schrieb angesichts der Überfülle an Nacktheit scheinheilig an Michelangelo, vor dessen gemalten Nuditäten würde selbst "ein Bordell erröten".

Der Künstler reagierte verärgert. An einem Zeremonienmeister, der Michelangelo besonders scharf wegen seiner Nackten angriff, rächte sich der Maler sogar. Er verewigte ihn als Teufelsgestalt in der Hölle. Als sich der Zeremonienmeister beim Papst beschwerte, soll dieser gesagt haben: "Lieber Mann, aus der Hölle kann ich Sie auch nicht retten." Dennoch konnten die Kritiker sich durchsetzen - zumindest nach dem Tod Michelangelos. Dessen Schüler Daniele da Volterra sollte als "Hosenmaler" in die Geschichte eingehen. Auch nach der Restaurierung, die vor gut zehn Jahren abgeschlossen wurde, sind die meisten ehemals Entblößten verhüllt geblieben.

Die Restaurierung ließ jedoch nicht nur Michelangelos Bilder in ungeahnt strahlenden Farben erscheinen, sondern verhalf auch den Bildern an den Seitenwänden der Kapelle wieder zu neuem Glanz. Dort hatten in den Jahren 1481 und 1482 die bedeutendsten Maler der damaligen Zeit in nur sieben Monaten Szenen aus dem Alten und Neuen Testament - ein Moses-Zyklus und ein Jesus-Zyklus - verewigt.

Papst Sixtus IV. hatte die toskanischen Künstler Botticelli, Ghirlandaio, Perugino, Piero di Cosimo und Rosselli mit der Gestaltung der Seitenfresken beauftragt. Sofort brach zwischen den Malern ein Konkurrenzkampf aus, der durch eine vom Papst in Aussicht gestellte Siegesprämie für den Besten noch verschärft wurde.

Sehr zum Ärger der Meister gewann ausgerechnet der schwächste Maler unter ihnen: Cosimo Rosselli. Der hatte als Thema die "Anbetung des Goldenen Kalbs" gewählt und sowohl das Tier wie auch die unbeholfen um das Kalb Tanzenden mit teurer Goldfarbe und reinem Ultramarin gemalt. Von dem leuchtenden Resultat ließ sich auch der Papst blenden und kürte Rosselli zum Sieger.

Ein anderer Künstler verewigte seinen kleinen Hund gleich mehrfach auf dem Moses- und dem Jesus-Zyklus. Mal springt das weiße Tier fast aus dem Bild, dann hüpft es vor dem Abendmahl-Tisch.

Das bedeutendste Fresko aus der Reihe ist jedoch das Bild "Die Übergabe der Schlüssel an den heiligen Petrus" von Perugino: Jesus überreicht Petrus den Schlüssel und erklärt ihn dadurch zum Stellvertreter auf Erden. Der Platz unter diesem Bild war bis ins 16. Jahrhundert heiß begehrt, nachdem mehrfach Kardinäle, die darunter saßen, Papst wurden. Nach dem Gerangel blieb dem Zeremonienmeister nichts anderes übrig, als die Sitze zu verlosen. Doch letztendlich ist es egal, wo die Kardinäle sitzen, denn jeder Platz bietet einen außergewöhnlichen Blick auf die grandiosen Fresken der Sixtinischen Kapelle.